Von Grund auf anders

Eva Lange und Carola Unser stehen vor der rötlichen Steinwand eines Gebäudes.
(Foto: Neven Allgeier)
interview

Eva Lan­ge und Ca­ro­la Un­ser lei­ten als Dop­pel­spit­ze das Hes­si­sche Lan­des­thea­ter Mar­burg. Der In­ten­dant als Pa­tri­arch und Al­lein­herr­scher er­scheint ih­nen frag­wür­dig, ihr Lei­tungs­mo­dell gilt als zu­kunfts­wei­send. Ein Ge­spräch über die Lie­be zum Dis­kurs, über Di­ver­si­tät und ihre Ma­xi­me ei­ner Au­to­ri­tät durch Kom­pe­tenz.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Ihr seid eure In­ten­danz am Hes­si­schen Lan­des­thea­ter Mar­burg 2018/19 mit kon­kre­ten Ziel­set­zun­gen zur Lei­tung die­ses Hau­ses an­ge­tre­ten, könnt ihr die­se be­schrei­ben?

Eva Lan­ge: Uns war von An­fang an wich­tig, dass die­ses Thea­ter ein Ort des Dis­kur­ses ist. Das woll­ten wir in der Form ei­ner Dop­pel­spit­ze be­reits ab­bil­den und soll­te sich dann in den wei­te­ren Struk­tu­ren fort­set­zen. Es gibt zum Bei­spiel grund­sätz­lich kei­ne hier­ar­chi­schen Über- und Un­ter­ka­te­go­ri­en wie Chef­dra­ma­turg*in/Dra­ma­turg*in, son­dern eine Grup­pe von Dra­ma­tur­g­in­nen und Dra­ma­tur­gen. Ca­ro­la und ich sind auch Teil der dra­ma­tur­gi­schen Run­de.

Ca­ro­la Un­ser: Wir woll­ten ger­ne von An­fang an, dass die Ab­tei­lungs­lei­te­rin­nen und Ab­tei­lungs­lei­ter so gut als mög­lich ein­ge­bun­den sind, zum Bei­spiel auch für die Eta­blie­rung von Sit­zungs­struk­tu­ren. Für man­che Mit­ar­bei­ten­den wa­ren die ver­meint­lich feh­len­den Vor­ga­ben zu Be­ginn ir­ri­tie­rend, aber suk­zes­si­ve ha­ben alle die­se Ver­ant­wor­tung an­ge­nom­men.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Wie funk­tio­nie­ren Ent­schei­dungs­pro­zes­se zu zweit?

Ca­ro­la Un­ser: Wir sind nicht im­mer ei­ner Mei­nung. Bei Per­so­nal-, al­len künst­le­ri­schen Ent­schei­dun­gen und gro­ßen Fi­nanz­ent­schei­dun­gen ha­ben wir die Re­gel, dass wir so lan­ge mit­ein­an­der rin­gen, bis es zwei­mal 100 Pro­zent gibt. Meist sind wir da schnell ei­nig. Bei künst­le­ri­schen Ent­schei­dun­gen in der Grup­pe dau­ern die Ent­schei­dungs­pro­zes­se manch­mal lan­ge. Aber je län­ger die Pro­zes­se an­dau­ern, des­to mehr be­den­ken alle al­les und umso ge­rin­ger ist die Feh­ler­quo­te. Grund­sätz­lich ar­bei­ten wir mit der Ma­xi­me Au­to­ri­tät ob Kom­pe­tenz. Wir wol­len nicht mit dem tech­ni­schen Lei­ter ver­han­deln, wir wol­len sei­ner Ein­schät­zung ver­trau­en. Lei­der sind die Ver­hand­lungs­spiel­chen in den Thea­tern tief ver­an­kert, es ist ein lan­ger Pro­zess, so zu ar­bei­ten, dass den Ex­per­ti­sen ver­traut wird – von bei­den Sei­ten.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Wel­che Än­de­run­gen habt ihr kon­kret um­set­zen kön­nen in den drei­ein­halb Jah­ren seit eu­rem An­tritt?

Ca­ro­la Un­ser: Wir ha­ben im ers­ten Jahr ein Leit­bild mit dem ge­sam­ten Haus er­ar­bei­tet und es am Ende der ers­ten Spiel­zeit noch­mal an­ge­schaut und kon­kre­ti­siert. Dar­aus re­sul­tier­ten u.a. ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­work­shop, Mög­lich­kei­ten für Coa­ching und Su­per­vi­si­on für das En­sem­ble und Tools wie jähr­li­che Ge­sprä­che mit al­len Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern. Im Grun­de brau­chen wir eine Anti-Se­xu­al-Ha­rass­ment-Stra­te­gie, die ha­ben wir noch nicht. Es gibt eine Schu­lung für eine Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­te. An­ti­ras­sis­mus ha­ben wir ge­ra­de als Spiel­zeit­the­ma ge­setzt und ma­chen eine Fort­bil­dung zur ras­sis­mus­kri­ti­schen Hal­tung mit dem gan­zen Thea­ter.

Porträtfoto von Eva Lange und Carola Unser vor einem grauen Hintergrund.
Die beiden Regisseurinnen Eva Lange (links) und Carola Unser (rechts) leiten seit der Spielzeit 2018/19 das Hessische Landestheater Marburg (HLTM).(Photo: Neven Allgeier)

Jet­te Büs­hel: Ihr habt eine Bot­schaf­te­rin für Kol­la­bo­ra­ti­on und Un­sin­ni­ges. Die­se Job­be­zeich­nung habe ich noch nie ge­hört. Was hat es da­mit auf sich?

Ca­ro­la Un­ser: Die Phan­ta­sie war, dass es ir­gend­wann eine Rou­ti­ne gibt und wir pro­duk­tiv ge­stört wer­den müs­sen. Wir ha­ben nach ei­ner Haus­phi­lo­so­phin ge­sucht, die den Blick ab und zu in eine an­de­re Rich­tung lenkt und ha­ben Romy Leh­mann da­mit be­auf­tragt. Sie hat eine Stim­me im En­sem­ble und eine Stim­me in die Stadt.

Eva Lan­ge: Es han­delt sich um eine Per­so­na­lie, die dar­an er­in­nert, dass auch im­mer al­les an­ders sein kann, die un­se­re Ziel­ori­en­tiert­heit in­fra­ge stellt. Das Un­sin­ni­ge ist wich­tig, wenn wir das Thea­ter in sei­ner neo­li­be­ra­lis­ti­schen  Ziel­ori­en­tiert­heit in­fra­ge stel­len. Man hat ei­nen Spiel­raum, wie man Stel­len ge­stal­tet, man muss es nur ma­chen. Es ist der­sel­be Spiel­raum, den man bei der Gleich­be­zah­lung von Frau­en und Män­nern hat. Man muss es nur ma­chen.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Zur künst­le­ri­schen Ar­beit: Vie­le ka­no­ni­sier­te Dra­men sind in Dis­kus­si­on be­zo­gen auf ras­sis­ti­sche
und se­xis­ti­sche In­hal­te, aber auch in Be­zug auf den Sprech­an­teil der Frau­en­rol­len usw. Gibt es eine ein­deu­ti­ge Po­li­tik des Um­gangs mit die­sen Fra­ge­stel­lun­gen?

Ca­ro­la Un­ser: Wir mei­nen es wirk­lich ernst mit ei­ner ras­sis­mus- und se­xis­mus­kri­ti­schen Hal­tung. Es geht mit Mey­er­hold ge­spro­chen im­mer dar­um, die Ge­gen­wart in ei­nem Stoff trans­pa­rent zu ma­chen. Dann un­ter­lie­gen alle Tex­te und Stof­fe ei­ner Prü­fung, bei der wir uns auch Rat von au­ßen ho­len. Es gibt auch das Be­dürf­nis neue Stof­fe zu ma­chen. Alle Stof­fe brau­chen ei­nen Grund und eine Per­spek­ti­ve, aus der sie her­aus be­trach­tet wer­den.

Eva Lan­ge: Wir sind beim Ka­non im­mer auf der Su­che nach den schrei­ben­den Frau­en. Es kommt auch auf die Schu­len an, es wäre eine gro­ße De­bat­te zwi­schen dem Wis­sen­schafts- und Kunst­mi­nis­te­ri­um und dem Kul­tur­mi­nis­te­ri­um, wel­che Stof­fe im Lehr­plan ste­hen und wie Schu­le und Thea­ter auch jen­seits des der­zei­ti­gen Ka­nons zu­sam­men­ar­bei­ten könn­ten. Wenn Brecht im­mer vor­kommt und Ma­rie-Lui­se Fleißer nicht, wer liest sie dann? Es gibt durch­aus eine Schwer­fäl­lig­keit der Sys­te­me um das Thea­ter her­um.

Jet­te Büs­hel: Wie habt ihr euer En­sem­ble zu­sam­men­ge­stellt? Habt ihr eine Be­set­zungs­pra­xis für das En­sem­ble und für Gäs­te?

Eva Lan­ge: Wir hät­ten ger­ne ein al­ters­di­ver­ses und in Hin­blick auf in­ter­sek­tio­na­le Fra­gen di­ver­ses En­sem­ble. Das be­trifft auch die Dra­ma­tur­gie. Es liegt na­tür­lich dar­an, wer bis­her an den Schau­spiel­schu­len, an den Thea­tern und an­gren­zen­den Stu­di­en­gän­gen aus­ge­bil­det wur­de.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Bringt das die Um­wer­tung ei­nes Qua­li­täts­be­griffs mit sich?

Eva Lan­ge: Wir müs­sen über an­de­re Maß­stä­be nach­den­ken, um eine grö­ße­re Zu­gäng­lich­keit zu schaf­fen. Men­schen müs­sen auch eine Dra­ma­tur­gie-Stel­le be­kom­men kön­nen, wenn sie kei­ne klas­sisch bür­ger­li­che Vita hin­ter sich ha­ben. Dann müs­sen an­de­re Ab­schlüs­se – auch aus an­de­ren Län­dern – an­er­kannt wer­den. Und Men­schen mit an­de­ren Per­spek­ti­ven und Be­ga­bun­gen auf­ge­nom­men wer­den.

Frie­de­ri­ke Thiel­mann: Ihr ar­bei­tet an ei­nem Lan­des­thea­ter mit ei­nem Auf­trag, alle Men­schen an­zu­spre­chen. Das Thea­ter ist eine bür­ger­li­che und wei­ße In­sti­tu­ti­on: Wie funk­tio­niert das und ist es das rich­ti­ge Me­di­um für In­te­gra­ti­on?

Ca­ro­la Un­ser: Das Thea­ter in Deutsch­land ist ein kul­tu­rel­les Erbe und ein gro­ßes Ge­schenk. Die­ses Ge­schenk ver­pflich­tet auch. Am HLTM set­zen wir auf die Zu­sam­men­ar­beit mit Schu­len. Tat­säch­lich weiß die bür­ger­li­che und wei­ße In­sti­tu­ti­on Thea­ter noch nicht, wie es geht, ein Thea­ter für alle zu wer­den. Aber es hät­te die Chan­ce, Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt zu wer­den. Das be­deu­tet, dass wir uns von un­se­ren Kom­fort­zo­nen ver­ab­schie­den und neue Äs­the­ti­ken zu­las­sen müs­sen. Be­stehen wir wei­ter auf das Han­no­ve­ra­ner Hoch­deutsch auf den Büh­nen oder könn­te, ja müss­te es nicht an­de­re Stim­men ge­ben? Was ge­nau ist Hand­werk? Die Schau­spiel­aus­bil­dun­gen müs­sen an­de­re Men­schen zu­las­sen, die Lei­tungs­po­si­tio­nen an­ders be­setzt wer­den, auch die po­li­ti­schen Gre­mi­en. Es ist eine Si­sy­phus­ar­beit, viel­leicht ist es auch der Her­ku­les­stall. Aber wir glau­ben dar­an, dass es geht.

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