„Wir sind nicht unbequem genug“

Klement Tockner steht auf einem Schiff an der Reeling und blickt an der Kamera vorbei auf den Fluss.
(Foto: Ramon Haindl)
interview

Sei­ne Kind­heit in ei­nem ös­ter­rei­chi­schen Berg­dorf ge­mein­sam mit acht Ge­schwis­tern und ei­ner sehr prä­sen­ten Na­tur präg­ten ihn. Heu­te ist es das er­klär­te Ziel des Ge­wäs­ser­öko­lo­gen und Hoch­schul­leh­rers, durch ganz­heit­li­che Geo­bio­di­ver­si­täts­for­schung ei­nen zu­kunfts­wei­sen­den Bei­trag zur Be­wäl­ti­gung der gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen in ei­ner Epo­che zu lie­fern, in der der Mensch der wich­tigs­te Ein­fluss­fak­tor der Pro­zes­se auf der Erde ge­wor­den ist. Prof. Dr. Kle­ment Tock­ner ist seit letz­tem Jahr Ge­ne­ral­di­rek­tor der Sencken­berg Ge­sell­schaft für Na­tur­for­schung. Mit ihm spricht der HfMDK-Prä­si­dent Prof. El­mar Ful­da über die Grat­wan­de­rung zwi­schen Schwarz­ma­le­rei, wis­sen­schaft­li­chem Rea­lis­mus und Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten in sei­ner Tä­tig­keit.

Do­ku­men­ta­ti­on: Björn Ha­dem

El­mar Ful­da: Herr Tock­ner, ge­stat­ten Sie mir in al­ler Di­rekt­heit mit ei­ner exis­ten­zi­el­len Fra­ge zu be­gin­nen: Hat die Erde aus Ih­rer Sicht eine Zu­kunft?

Kle­ment Tock­ner: Sie hat auf je­den Fall eine Zu­kunft – die Fra­ge ist eher, ob wir Men­schen eine sol­che auf ihr ha­ben. Die Erde braucht uns nicht, aber wir brau­chen die Erde, das muss uns be­wusst sein. Wir sind ver­ant­wort­lich für un­se­re Zu­kunft auf der Erde, sor­gen aber ge­ra­de da­für, dass wir ei­nen be­wohn­ten Pla­ne­ten für uns un­be­wohn­bar ma­chen. Für die Erde selbst kön­nen wir ohne wei­te­res op­ti­mis­tisch in die Zu­kunft schau­en. An den letz­ten fünf Mas­sen­aus­ster­be­ra­ten kön­nen wir er­ken­nen, dass sich als de­ren Fol­ge die Di­ver­si­tät, also die Viel­falt an Le­ben, ver­grö­ßert hat – nur die do­mi­nan­ten Ar­ten sind da­bei im­mer ver­schwun­den. Die Viel­falt ist das Er­geb­nis von drei­ein­halb Mil­li­ar­den Jah­ren na­tür­li­cher Evo­lu­ti­on. Das sind un­se­re Bi­blio­the­ken der Na­tur, heißt aber auch: Ein­mal ver­lo­ren ist für im­mer ver­lo­ren. Wir Men­schen „ver­bren­nen“ im Mo­ment die Bi­blio­the­ken der Na­tur.

Wie viel Zeit bleibt uns noch?

Ste­phen Haw­king hat pro­gnos­ti­ziert, dass die Mensch­heit die Erde in we­ni­gen Jahr­hun­der­ten, viel­leicht vier oder fünf, ver­las­sen muss. As­tro­bio­lo­gen er­klär­ten mir wie­der­um: Um ei­nen Pla­ne­ten für Men­schen be­wohn­bar zu ma­chen, braucht es min­des­tens 1.000 Jah­re. Das heißt für uns: Die Hoff­nung, dass wir ir­gend­wann von der Erde auf ei­nen an­de­ren Pla­ne­ten aus­wan­dern kön­nen, wür­de ich nicht als eine Op­ti­on ins Auge fas­sen. Die Wahr­heit ist: Wir ha­ben kei­ne Chan­ce mehr, das Pa­ri­ser Kli­ma­ziel von ma­xi­mal 1,5 Grad Erd­er­wär­mung ein­zu­hal­ten – wenn wir 3 Grad schaf­fen, wäre das schon ein Er­folg. Die­se 3 Grad be­deu­ten aber, dass gro­ße Tei­le des Pla­ne­ten un­be­wohn­bar sein wer­den. Da­bei wis­sen wir al­ler­dings noch zu we­nig über Kipp­ef­fek­te, die eine zu­sätz­li­che Dy­na­mik brin­gen, zum Bei­spiel wel­che Fol­gen es hat, wenn der Per­ma­frost auf­taut und rie­si­ge Men­gen an Me­than in die At­mo­sphä­re strö­men. Und es ist klar, dass un­ser Pla­net nicht län­ger nur ein Stein­bruch und eine Müll­kip­pe für uns Men­schen sein kann.

Es ist der Mensch selbst, der die Erde um­ge­stal­tet, Res­sour­cen ver­braucht und sei­ne ei­ge­ne Le­bens­grund­la­ge auf­zehrt – und das in im­mer ra­sche­ren Schrit­ten.

Lei­der ja – wir re­den von der gro­ßen Be­schleu­ni­gung der letz­ten rund 75 Jah­re. Den Stör als Fisch­fa­mi­lie – um ein Bei­spiel zu nen­nen – gibt es seit über 100 Mil­lio­nen Jah­ren; er war vor an­dert­halb Jahr­hun­der­ten mas­sen­haft vor­han­den und sein Fleisch das Es­sen für die ar­men Leu­te. Nun gibt es vom Eu­ro­päi­schen Stör nur noch eine Rest­po­pu­la­ti­on in Frank­reich mit etwa 30 In­di­vi­du­en in frei­er Na­tur.

Gibt es ei­nen his­to­ri­schen Zeit­punkt, zu dem die Welt noch ei­ni­ger­ma­ßen in Ba­lan­ce war?

Die letz­te gro­ße Be­schleu­ni­gung des Res­sour­cen­ver­brauchs be­gann un­ge­fähr Mit­te des letz­ten Jahr­hun­derts, also nach dem Zwei­ten Welt­krieg. Der­weil geht es den Men­schen ge­ra­de so gut wie nie zu­vor, sie le­ben län­ger denn je. Doch dies ist nur ein tem­po­rä­rer Zu­stand – wir le­ben eben auf Kos­ten der Res­sour­cen, die wir zeit­gleich auf­brau­chen. Doch es gab schon vor­her Pha­sen der Be­schleu­ni­gung: zu Be­ginn der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on mit den gro­ßen Ro­dun­gen, die Aus­brei­tung der Land­wirt­schaft vor un­ge­fähr 10.000 Jah­ren, eben­so die welt­wei­te Aus­brei­tung des Men­schen vor etwa 50.000 Jah­ren. Es fehlt uns heu­te die ko­gni­ti­ve Vor­stel­lungs­kraft zu er­ah­nen, was in 150 Jah­ren sein wird. Aus den letz­ten Jahr­zehn­ten und ih­rer un­ge­heu­er dy­na­mi­schen Ent­wick­lung brin­gen wir gro­ßes Ver­trau­en in groß­tech­ni­sche Lö­sun­gen mit, um den kli­ma­ti­schen Ent­wick­lun­gen ent­ge­gen­zu­wir­ken; Geo- bzw. Cli­ma­te-En­gi­nee­ring ist ein gro­ßes The­ma. Doch han­delt es sich da­bei um glo­ba­le Ex­pe­ri­men­te mit un­ge­wis­sem Aus­gang.

»Die persönliche Verantwortung kann nicht die politische kompensieren, die ein Land oder eine Staatengemeinschaft tragen muss.«Prof. Dr. Klement Tockner

Wenn die über­ge­ord­ne­ten Pro­zes­se eine sol­che Dy­na­mik ent­wi­ckeln, eine Hei­lung nur mehr im glo­ba­len Kon­text mög­lich scheint, trägt dann je­der Ein­zel­ne in sei­nem All­tag noch Ver­ant­wor­tung da­für, sein Le­ben kli­ma­scho­nend zu ge­stal­ten? Kann sein Tun über­haupt et­was be­wir­ken?

Die in­di­vi­du­el­le Ver­ant­wor­tung wird uns in der Kli­ma­de­bat­te zwar sug­ge­riert. Doch da­bei wird mei­nes Er­ach­tens die Ver­ant­wor­tung vom po­li­ti­schen Pro­zess auf die In­di­vi­du­en ab­ge­wälzt. Es braucht bei­des: Die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung kann nicht die po­li­ti­sche kom­pen­sie­ren, die ein Land oder eine Staa­ten­ge­mein­schaft tra­gen muss.

Po­li­ti­sches Han­deln im Kli­ma­schutz baut im bes­ten Fall – wir ken­nen lei­der ge­nü­gend an­de­re Ent­wick­lun­gen – auf wis­sen­schaft­li­che Ex­per­ti­se. Wie ak­tiv ist Wis­sen­schaft selbst, wie ihr Selbst­ver­ständ­nis?

Die Wis­sen­schafts­sys­te­me ver­schie­de­ner Kul­tu­ren un­ter­schei­den sich maß­geb­lich: In Eu­ro­pa und Ame­ri­ka do­mi­niert im wis­sen­schaft­li­chen Selbst­ver­ständ­nis die aka­de­mi­sche Frei­heit, wäh­rend in Süd­ost­asi­en aka­de­mi­sche  Ver­ant­wor­tung die Leit­li­nie al­len Han­delns ist. Op­ti­ma­ler­wei­se soll­te wis­sen­schaft­li­ches Ar­bei­ten bei­des zu­sam­men­brin­gen. Die Un­ab­hän­gig­keit un­se­rer For­schung hier­zu­lan­de neh­men wir Wis­sen­schaft­ler als in­di­vi­du­el­le Frei­heit wahr, schöp­fen sie aber nicht ge­nü­gend aus, heißt in mei­nem Ver­ständ­nis: Wir sind nicht un­be­quem ge­nug. Wir müss­ten mit der uns zur Ver­fü­gung ste­hen­den Un­ab­hän­gig­keit deut­li­cher auf As­pek­te auf­merk­sam ma­chen, die viel­leicht nie­mand hö­ren möch­te – eben weil sie un­an­ge­nehm sein kön­nen.

Die sehr hohe Kom­ple­xi­tät an Zu­sam­men­hän­gen führt dazu, dass sich Men­schen, die kei­ne Ex­per­ten sind, greif­ba­re Nar­ra­ti­ve su­chen. Jen­seits der Re­li­gi­on ist die Kunst so ein Nar­ra­tiv. Ich sehe Künst­le­rin­nen und Künst­ler in der Pflicht für eine Her­aus­for­de­rung, die uns der­ar­tig be­droht wie die Kli­ma­kri­se, neue Nar­ra­ti­ve zu ent­wi­ckeln. Die Kunst, auch Stu­die­ren­de, schien zu­letzt eher un­po­li­tisch zu agie­ren, die Ge­nera­ti­on der ak­tu­ell Stu­die­ren­den stellt aber wie­der ra­di­ka­le Fra­gen. Sie spü­ren, dass sich et­was grund­sätz­lich än­dern muss und neue Sicht­wei­sen nö­tig sind.

Bil­der und ein­zel­ne Per­so­nen – Bei­spiel Gre­ta Thun­berg – ha­ben das Po­ten­zi­al, ra­di­ka­le Än­de­run­gen im Be­wusst­sein zu be­wir­ken. Und In­no­va­tio­nen in der Wis­sen­schaft ge­hen oft von den Rän­dern aus und we­ni­ger vom Kern. Wir müs­sen die­se Rän­der zu­las­sen, denn dar­aus kann sich et­was Neu­es ent­wi­ckeln. Doch wir ver­ein­heit­li­chen lei­der den Ty­pus an For­schen­den zu sehr. Bei Sencken­berg ver­su­che ich ge­gen­zu­steu­ern, in­dem wir be­son­ders jene un­ter­stüt­zen, die sich et­was Neu­es trau­en und ri­si­ko­be­reit sind. Eine an­de­re Fest­stel­lung ist, dass die wirk­lich gro­ßen Ver­än­de­run­gen in der
Ge­schich­te in Fol­ge von Ka­ta­stro­phen von­stat­ten­ge­gan­gen sind.

Auch die Kunst ist schnell bei Un­ter­gangs­sze­na­ri­en und bleibt da­bei. Da­bei fol­gen Men­schen oft nicht ra­tio­na­len Über­le­gun­gen, son­dern agie­ren, ge­ra­de wenn es um die Per­spek­ti­ve Zu­kunft geht, die wir schwer ein­schät­zen kön­nen, nach emo­tio­na­len Mus­tern, mehr nach Stamm- statt re­flek­tie­ren­dem Groß­hirn. Wir be­nö­ti­gen also neue Er­zäh­lun­gen, die die­se Rou­ti­nen über­schrei­ben, um Ver­hal­ten zu än­dern. Kann die Wis­sen­schaft mehr als Ka­ta­stro­phen­deskrip­ti­on?

Sie er­wi­schen mich mit die­ser Fra­ge ge­nau an dem Punkt, der mich um­treibt, näm­lich nicht nur rei­ner „War­ner“ zu sein, son­dern auch Lö­sungs­op­tio­nen auf­zu­zei­gen. Op­ti­mis­mus ist wich­tig, darf uns aber nicht ver­blen­den. Wenn wir in­no­va­ti­ve Lö­sun­gen fin­den wol­len, brau­chen wir auch eine neue Art der Wis­sens­öko­no­mie: Rein aka­de­mi­sches Wis­sen bringt noch kei­ne Lö­sun­gen, son­dern erst de­ren Ver­bin­dung mit Hand­lungs-, Ori­en­tie­rungs- und Sys­tem­wis­sen. Und das Be­stre­ben muss zu­dem sein, frag­men­tier­tes Wis­sen aus ver­schie­de­nen Fach­ge­bie­ten und Wis­sens­sys­te­men sinn­voll zu­sam­men­zu­füh­ren.

Wir le­ben in ei­ner Zeit, in der un­ter­schied­li­che Ge­sell­schafts­mo­del­le wie­der stark im Wi­der­streit sind. Hal­ten Sie die de­mo­kra­ti­sche, auf Aus­gleich hin ori­en­tier­te Ge­sell­schafts­form, die wir in Eu­ro­pa prak­ti­zie­ren, für fä­hig, mit die­ser Ge­ne­ral- und Grund­satz­kri­se um­zu­ge­hen?

Ich schät­ze das Mo­dell vom „Eu­ro­pa der Re­gio­nen“, weil es das Bild von staat­li­chen Sys­te­men und na­tio­na­len Gren­zen auf­bricht. Wir kön­nen über Lan­des­gren­zen fah­ren, ohne kon­trol­liert zu wer­den, trotz­dem bleibt die Iden­ti­tät ei­nes je­den Staa­tes, ei­ner Re­gi­on er­hal­ten. Ich stel­le mir die Fra­ge, wie wir er­folg­reich ver­mit­teln kön­nen, dass die Viel­falt – ob ge­sell­schaft­lich, po­li­tisch, öko­lo­gisch oder kul­tu­rell – ein im­mens gro­ßer Wert an sich ist.

Porträt von Klement Tockner, er lehnt auf einem Schiff mit dem linken Ellenbogen an einer Wand und blickt in die Kamera.
Prof. Dr. Klement Tockner leitet als Generaldirektor die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und ist Professor für Ökosystemwissenschaften an der Goethe-Universität.(Photo: Ramon Haindl)

War­um ist Viel­falt so wich­tig?

Wir ha­ben bei Sencken­berg eine eu­ro­pa­wei­te Stu­die zum Wert von bio­lo­gi­scher Viel­falt für un­ser ei­ge­nes Wohl­be­fin­den durch­ge­führt. Her­aus­ge­kom­men ist, dass eine zehn­pro­zen­ti­ge Zu­nah­me der Viel­falt eine etwa gleich­ho­he Zu­nah­me im ei­ge­nen Wohl­be­fin­den be­deu­tet. Wir re­den da von Wer­ten, die uns viel­leicht gar nicht mehr be­wusst sind. Man muss Men­schen in Si­tua­tio­nen ex­po­nie­ren, da­mit sie an­de­re Er­fah­run­gen mit­be­kom­men als die ih­nen bis­her be­kann­ten – bei­spiels­wei­se die kom­plet­te Dun­kel­heit bei ei­nem nächt­li­chen Gang durch den Wald, die vie­le gar nicht mehr ken­nen. Sim­pel aus­ge­drückt: Wir Men­schen brau­chen die un­mit­tel­ba­re Er­fah­rung von Wild­nis und von Na­tur, um sie so ent­spre­chend schät­zen und schüt­zen zu ler­nen.

Sie re­den aus ei­ge­ner Er­fah­rung?

Durch­aus: Die Er­fah­rung von Dun­kel­heit war für mich als Kind prä­gend. Mit ihr ha­ben wir vie­le Ge­schich­ten ver­bun­den, die wir uns er­zähl­ten.

Ha­ben Sie die Na­tur denn als et­was Be­schüt­zen­des wahr­ge­nom­men oder als eine Her­aus­for­de­rung?

Die Na­tur gab und gibt mir je­den­falls eine sehr star­ke emo­tio­na­le Bin­dung; die Land­schaft der Kind­heit prägt die Men­schen. Wenn ich die al­ten Wege mei­ner Kind­heit in den Ber­gen der Stei­er­mark heu­te wie­der gehe, mer­ke ich, wie sehr sich al­les ver­än­dert hat. Über­all sind Forst­stra­ßen ent­stan­den, die die Land­schaft ge­ra­de­zu zer­stü­ckeln, au­ßer­dem lau­fen klei­ne Kraft­wer­ke an vie­len da­mals noch un­be­rühr­ten Bä­chen. Die Men­schen, die dort heu­te le­ben, ha­ben nur noch we­nig Be­zug zur sie um­ge­ben­den Land­schaft. Hier hat eine Ent­kop­pe­lung von Mensch und Na­tur statt­ge­fun­den.

Was ma­chen die­se Be­ob­ach­tun­gen mit Ih­nen, wenn Sie nun als Wis­sen­schaft­ler dar­auf bli­cken? Se­hen Sie dort die glo­ba­len Pro­ble­me im Klei­nen wie in ei­ner Nuss-Scha­le ab­ge­bil­det?

Heu­ti­ge Berg­bau­ern wür­den sich viel­leicht gar nicht als „ent­kop­pelt“ se­hen, und ob vor 40-50 Jah­ren nun al­les viel bes­ser und „im Ein­klang mit der Na­tur“ war, kann man si­cher auch dis­ku­tie­ren. Im­mer­hin ist der Ein­be­zug tra­di­tio­nel­len Wis­sens heu­te ja auch in der For­schung durch­aus üb­lich. Und dies lässt sich nicht durch rein aka­de­mi­sches Wis­sen er­set­zen. Doch es gibt auch po­si­ti­ve Bei­spie­le von Ge­gen­den, die ihr na­tür­li­ches und kul­tu­rel­les Erbe sehr be­wusst und ver­ant­wor­tungs­voll pfle­gen. Oft hängt die­se Hal­tung von Ein­zel­per­so­nen wie dem Bür­ger­meis­ter ab, der mu­tig et­was vor­an­bringt, um Nach­hal­tig­keit und Brauch­tum zu pfle­gen. Über­haupt ist das Dorf die mi­ni­ma­le Ein­heit, in der der Grund­stock ge­mein­schaft­li­cher Bin­dung spür­bar ist. Grund­as­pek­te des Mit­ein­an­ders sind da­bei Kom­mu­ni­ka­ti­on, Par­ti­zi­pa­ti­on und Ver­trau­en. Die Fra­ge ist, ob sich sol­che Vor­aus­set­zun­gen von der Dorf­e­be­ne auf die „gro­ße“ Ge­sell­schaft hin­aufs­ka­lie­ren las­sen.

Sind Sie nun eher Pes­si­mist, Op­ti­mist oder Rea­list?

Ich wa­che je­den Tag als Op­ti­mist auf und gehe als ein vor­sich­ti­ger Rea­list abends zu Bett. Un­se­re Auf­ga­be als Wis­sen­schaft­ler ist durch­aus, den Fin­ger in die Wun­de zu le­gen. Die Un­ab­hän­gig­keit und die Frei­heit, die wir ha­ben, müs­sen uns dazu füh­ren, dass wir an The­men for­schen, die zu­nächst „un­po­pu­lär“ er­schei­nen. Und: For­scher müs­sen sich um best­mög­li­che Da­ten be­mü­hen, weil da­von wich­ti­ge ge­sell­schaft­li­che Ent­schei­dun­gen ab­hän­gen. Die Wis­sen­schaft selbst trifft kei­ne Ent­schei­dung – dies ist Auf­ga­be der Po­li­tik, und bei­des darf nicht mit­ein­an­der ver­mischt wer­den. Die gro­ße Her­aus­for­de­rung liegt in ei­ner gu­ten Über­set­zung vom Wis­sen ins Han­deln. Da­bei hat der qua­li­täts­ge­trie­be­ne Wis­sen­schafts­jour­na­lis­mus eine wich­ti­ge Auf­ga­be. Er kann hel­fen, aus dem man­nig­fa­chen Wis­sen her­aus­zu­de­stil­lie­ren, was wirk­lich nutz­bar ist. Die Ge­sell­schaft braucht star­ke NGOs, also Nicht-Re­gie­rungs-Or­ga­ni­sa­tio­nen, als Ad­vo­ka­ten und Kon­trol­leu­re, und wir brau­chen eine mu­ti­ge Po­li­tik. Nach­hal­ti­ge Lö­sun­gen er­ge­ben sich aus der Kom­bi­na­ti­on von gu­ter, un­ab­hän­gi­ger und oft auch un­be­que­mer Wis­sen­schaft, ho­hem ge­sell­schaft­li­chen En­ga­ge­ment und gro­ßem po­li­ti­schen Mut.

Im Ge­spräch

Prof. Dr. Kle­ment Tock­ner lei­tet als Ge­ne­ral­di­rek­tor die Sencken­berg Ge­sell­schaft für Na­tur­for­schung und ist Pro­fes­sor für Öko­sys­tem­wis­sen­schaf­ten an der Goe­the-Uni­ver­si­tät, Frank­furt am Main (seit 2021). Er ist ein in­ter­na­tio­nal füh­ren­der Süß­was­ser­for­scher, ins­be­son­de­re für Bio­di­ver­si­tät, Öko­sys­tem­wis­sen­schaf­ten und Um­welt­ma­nage­ment. Dar­über hin­aus en­ga­giert er sich u.a. als Mit­her­aus­ge­ber der Zeit­schrift „Aqua­tic Sci­en­ces“ und als Sub­ject Edi­tor der Zeit­schrift „Eco­sys­tems“. Tock­ner hat gro­ße in­ter- und trans­dis­zi­pli­nä­re Pro­jek­te ge­lei­tet, wie das von der EU fi­nan­zier­te Pro­jekt Bio­Fresh. Er ist Mit­glied meh­re­rer wis­sen­schaft­li­cher Aus­schüs­se und Bei­rä­te, dar­un­ter das Na­tio­nal In­sti­tu­te of En­vi­ron­men­tal Stu­dies, Ja­pan (NIES) und das Bio­lo­gy Re­se­arch Cent­re (CZ), zu­sätz­lich ge­wähl­tes Mit­glied der Ös­ter­rei­chi­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten, Leo­pol­di­na.

Prof. El­mar Ful­da ist seit 2018 Prä­si­dent der HfMDK.

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