Von Punkt zu Punkt

Eine große Gruppe Tänzer*innen auf dem Boden verteilt, von oben fotografiert.
Scapes: Lecture Performance von Prof. Dieter Heitkamp an der Frankfurt University of Applied Sciences(Photo: Dieter Heitkamp)
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Sind Sie be­reit für neue Er­fah­run­gen? Die­ter Heit­kamp, Tanz­pro­fes­sor an der HfMDK, über „Scapes“ – eine Per­for­mance, die Tanz mit Ar­chi­tek­tur und Bil­den­der Kunst ver­bin­det.

TEXT: DIE­TER HEIT­KAMP

In der An­ti­ke maß man der Welt der Din­ge gro­ße Be­deu­tung bei, weil man mein­te, in ihr eine hö­he­re Ord­nung er­ken­nen zu kön­nen, den gött­li­chen Sinn. Dem­entspre­chend lag das Haupt­au­gen­merk in der Ar­chi­tek­tur auf der Form – et­was Schö­nes, Wohl­ge­fäl­li­ges in Zah­len aus­zu­drü­cken, fas­zi­nier­te, und Men­schen mach­ten kei­ne Aus­nah­me: Die Zah­len­ver­hält­nis­se (Ord­nun­gen) im Kör­per wur­den nicht als zu­fäl­lig be­trach­tet, son­dern als sinn­vol­ler­wei­se vor­ge­ge­ben. Le Cor­bu­si­er griff im 20. Jahr­hun­dert die­se Ide­en wie­der auf, ent­wi­ckel­te sie in sei­nem Buch „Le Mo­dulor“ wei­ter und schau­te be­son­ders auf zwei Maße: die Höhe des Men­schen mit aus­ge­streck­ter Hand (2,26 Me­ter) und die Höhe bis zum Bauch­na­bel (1,13 Me­ter). Sie fan­den in der Ar­chi­tek­tur An­wen­dung, so ist zum Bei­spiel die ‚idea­le‘ Stu­fe eine hal­be Knie­hö­he hoch (16,5 Zen­ti­me­ter).

Der Funk­tio­na­lis­mus stell­te also die Funk­tio­na­li­tät in den Vor­der­grund. Aus­gangs­punkt soll­te nicht mehr die Form sein, son­dern ein Hand­lungs­den­ken, das dem Zu­sam­men­le­ben von Men­schen in Be­we­gung Rech­nung trägt. „Form fol­lows/ser­ves func­tion“ lau­te­te der neue Grund­satz – die Ar­chi­tek­tur habe sich nach der Nut­zung zu rich­ten.

Ar­chi­tek­tur be­schreibt al­les, was Kör­per im Raum um­gibt: Bö­den, Wän­de, Licht und Schat­ten, Ma­te­ria­li­tä­ten und Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de. Im Fo­kus steht, wie sich Kör­per zur Ar­chi­tek­tur ver­hal­ten und mit ihr eine Wech­sel­be­zie­hung ein­ge­hen, – dar­um ging es oft auch in mei­ner ei­ge­nen cho­reo­gra­phi­schen Ar­beit. 2004 etwa ent­stand „Das Blaue Fleisch“, eine Tanz-Mu­sik- Vi­deo-In­stal­la­ti­on in Zu­sam­men­ar­beit mit der Kom­po­nis­tin Isa­bel Mund­ry und dem Fil­mer Lutz Gre­gor, wir ha­ben den kom­plet­ten Frank­fur­ter Dom be­spielt. Ei­ni­ge Jah­re spä­ter, 2016, kam „Ma­te­ria Pri­ma“ auf die Büh­ne, die Per­for­mance ba­sier­te auf ei­ner Ko­ope­ra­ti­on der Kul­tur­platt­form St. Mar­tin Kas­sel mit dem Künst­ler­haus Mou­son­turm/Tanz­platt­form Rhein_Main Frank­furt, dem Stu­di­en­gang BA­tanz an der HfMDK und dem Mas­ter­stu­di­en­gang „Zeit­ge­nös­si­sche Mu­sik“ der In­ter­na­tio­na­len En­sem­ble Mo­dern Aka­de­mie.

Nahaufnahme einer großen Gruppe Tänzer*innen
Scapes: Lecture Performance von Prof. Dieter Heitkamp an der Frankfurt University of Applied Sciences(Photo: Dieter Heitkamp)

Ar­chi­tek­tur und Tanz in Ver­bin­dung von Theo­rie und Pra­xis war zu­dem das The­ma mei­ner Lec­tu­re Per­for­mance „Scapes“ im April 2015 an der Frank­furt Uni­ver­si­ty of Ap­p­lied Sci­en­ces. An­ge­regt zu dem Ti­tel hat­te mich ein Text des Tän­zers und Cho­reo­gra­phen Ste­ve Paxt­on („Not­hing Co­mes To Mind _ mind­s­capes and the space; an am­ble“). Aus­gangs­ba­sis war mei­ne lang­jäh­ri­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit Tanz, spe­zi­ell Con­tact Im­pro­vi­sa­ti­on, Bil­den­der Kunst und Ar­chi­tek­tur.

Lec­tu­re Teil 1: Brü­cken von Katsus­hi­ka Ho­ku­sai

Eine der Auf­ga­ben, die sich Ar­chi­tekt*in­nen stellt, ist der Ent­wurf von Brü­cken. Durch Brü­cken wer­den Ver­bin­dun­gen her­ge­stellt zwi­schen Stadt­tei­len, Städ­ten, Län­dern, Kon­ti­nen­ten oder, wie im Fall die­ser Lec­tu­re Per­for­mance, zwi­schen Uni­ver­si­tä­ten, Kunst­for­men und The­men­kom­ple­xen. Brü­cken war das ers­te The­ma, dass die Tän­zer*in­nen per­for­ma­tiv um­setz­ten.

Zu Be­ginn la­gen sie still auf dem Bo­den und ha­ben wahr­ge­nom­men, wo sie auf dem Bo­den auf­lie­gen und wo Luft zwi­schen dem Kör­per und dem Bo­den ist – ohne et­was tun zu müs­sen, sind be­reits Brü­cken vor­han­den. Dann ver­än­der­ten die Tän­zer*in­nen ihre Lage, stell­ten Be­zie­hun­gen zum Um­feld her, kom­ple­xe­re Brü­cken­kon­struk­tio­nen ent­stan­den. Als In­spi­ra­ti­on hat­te ich Farb­holz­schnit­te des ja­pa­ni­schen Ma­lers Katsus­hi­ka Ho­ku­sai ge­zeigt, sei­ne Brü­cken aus Holz, Stein oder Pon­tons, Hän­ge­brü­cken, ge­schwun­ge­ne Brü­cken, Brü­cken in Zick­zack­form.

Lec­tu­re Teil 2: Mit Paul Klee zum Raum-Klang-Kör­per

Von Ho­ku­sai ge­lang­ten wir über Paul Klees „Päd­ago­gi­sches Skiz­zen­buch“ zum Bau­haus, zum The­ma: von Punkt zu Li­nie zu Flä­che zu Raum-Klang-Kör­per. Ein we­sent­li­ches Merk­mal der Con­tact Im­pro­vi­sa­ti­on ist der Zu­gang zu Be­rüh­rung, an­hand von Scores ver­such­ten wir, Be­rüh­rungs­punk­te und Par­al­le­len zwi­schen Prin­zi­pi­en der Con­tact
Im­pro­vi­sa­ti­on und den Ide­en von Paul Klee auf­zu­zei­gen.

Im Per­for­mance-Script stand dazu in ei­ner Auf­ga­be für das Pu­bli­kum: „Neh­men Sie eine Per­son an Ih­rer Sei­te als Part­ner. Le­gen Sie die Spit­zen Ih­rer rech­ten Zei­ge­fin­ger oder auch der lin­ken an­ein­an­der und schlie­ßen Sie die Au­gen. Rich­ten Sie Ihre Auf­merk­sam­keit in die­sen Kon­takt­punkt und spü­ren Sie nach, wel­che In­for­ma­tio­nen durch die­sen Punkt flie­ßen. Spü­ren Sie ei­nen Puls? Viel­leicht wird sich die­ser Punkt in Be­we­gung set­zen. Fol­gen Sie dem Im­puls. Wenn Sie es nicht füh­len, dann be­wegt er sich nicht. Viel­leicht wer­den Ihre Arme schwer, sin­ken ab und da­durch ge­rät der Punkt in Be­we­gung. Es geht nicht um ‚füh­ren und fol­gen‘. Es ist kei­ne Übung im Fin­ger­ha­keln. Wenn Sie bei­de das Ge­fühl ha­ben zu fol­gen, ist das klas­se. Pla­nen Sie nicht, son­dern las­sen Sie die Be­we­gung ge­sche­hen.“

Aus die­sem wan­dern­den Punkt und ver­schie­de­nen Fort­be­we­gungs­ar­ten ent­wi­ckel­ten sich wich­ti­ge Ele­men­te der Kon­takt­im­pro­vi­sa­ti­on: Kommt er ins Rol­len, ent­steht eine Li­nie – wenn ich Punkt für Punkt mei­ne Hand­kan­te und den Un­ter­arm und wei­ter über den Ober­arm und die Schul­ter ab­rol­le.

Die nächs­te Übung, ge­nannt „Rol­ling Point of Con­tact“, be­gann im Sit­zen auf dem Bo­den. Die Tän­zer*in­nen spür­ten, wo die Auf­la­ge­punk­te zwi­schen Ge­säß und Bo­den sind, ent­schie­den sich für ei­nen Punkt und lie­ßen ihn durch  Ge­wichts­ver­la­ge­rung in­ner­halb des Kör­pers wan­dern. In­dem sie lang­sam und be­wusst, Punkt für Punkt, eine Li­nie kre­ierten und so zu an­de­ren Re­gio­nen ih­res Kör­pers ge­lang­ten, leg­ten sie eine Li­nie zwi­schen Kör­per und Bo­den. Der Bo­den wur­de zum Part­ner, und aus dem Solo ein Du­ett.

Lec­tu­re Teil 3: So wie Yves Klein, nur ohne Far­be

Yves Klein wirkt bis heu­te nach, den­ken Sie nur an „An­thro­po­me­tries de l’epo­que bleu“ von 1960: Wenn Sie sich wie sei­ne Mo­del­le da­mals in Far­be wäl­zen wür­den, könn­ten auch Sie den Bo­den und die Wand zur Lein­wand er­klä­ren und Kör­per­ab­drü­cke ma­chen.

Viel­leicht er­in­nert Sie das an Kar­tof­fel­druck. An den Poin­til­lis­mus, an Ac­tion Pain­ting à la Jack­son Pol­lock oder, und da­mit zu­rück zum Bau­haus, an gra­phi­sche Skiz­zen von Paul Klee. Die Übung bei Scapes dazu hieß „Von der Li­nie zur Flä­che zu Raum­kör­pern“ und zeig­te: Es ent­steht eine Li­nie, wenn Tän­zer*in­nen in Längs­rich­tung der Kör­per­ach­se am Bo­den rob­ben, oder eine Flä­che, wenn sie den Kör­per seit­lich ver­schie­ben oder um die Längs­ach­se am Bo­den rol­len.

Über den Au­tor

Die­ter Heit­kamp ist Pro­fes­sor für Zeit­ge­nös­si­schen Tanz an der HfMDK. Seit 24 Jah­ren lei­tet er die Tanz­ab­tei­lung, zum Ende des Win­ter­se­mes­ters geht er in den Ru­he­stand. Mit dem Win­ter­tanz­pro­jekt 2023 ver­ab­schie­den ihn Alum­ni und ak­tu­el­le Stu­die­ren­de.

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