Die innere Stille zwischen den Noten

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Musik schließt dem Publikum einen Raum auf, den es eigentlich gar nicht gibt, einen Klangraum. Hier erklärt Tim Vogler, wie dieses Phänomen entsteht.

Wenn wir Musik hören, betreten wir eine Art virtuellen Raum, den so nur das jeweilige Stück Musik erzeugen kann. Die Beschaffenheit dieses Raumes liegt in der Art der Komposition, in der Interpretation sowie in der Befindlichkeit unseres eigenen Gemütszustandes begründet. Ein Klangraum ist vieldimensional. Zeitlicher Verlauf, die Tonalität, der Tonumfang, Klangfarben und musikalische Architektur, das Zusammentreffen von Vergangenheit (Zeitpunkt der Komposition) und Gegenwart (Zeitpunkt der Aufführung) bestimmen seinen Umfang und unser Erleben in ihm.

In diesem kurzen Essay möchte ich auf zwei Raumelemente hinweisen, die in guten Interpretationen erlebbar sind, wenn wir uns dafür sensibilisieren. Zum einen ist da die Stille zwischen den Noten. Wenn diese durch innere Ruhe erlebbare Stille existent ist, wird sich das musikalische Raumgefühl ganz anders darstellen, als wenn diese Stille fehlt. Das ist beispielhaft zu erleben in der Interpretation der Bach’schen Goldberg Variationen, gespielt von András Schiff.
Bereits nach wenigen Sekunden entsteht ein Klangraum. Durch die innere Stille zwischen den Noten werden wir ruhiger und geerdeter.

Das andere Element wird in der Spannung zwischen den Intervallen erlebbar. Es gibt kleine und große Intervalle (Abstände), harmonische und disharmonische (konsonante und dissonante) Intervalle, die mit der ihnen eigenen Charakteristik einen bestimmten Raum beschreiben. Es bereichert eine Interpretation ungemein, wenn ein Interpret diesen Intervallen nachspürt und sie sorgfältig miterlebt. Wie leicht kann man dagegen Töne auf dem Klavier anschlagen, ohne die Intervalle dazwischen zu hören, geschweige denn zu erleben.

Johann Philipp Kirnberger schrieb 1776 in „Die Kunst des reinen Satzes“, im zweiten Teil: „Jedes Intervall hat gleichsam seinen eigenen Ausdruck, der aber durch die Harmonie und durch die verschiedene Art ihrer Anbringung sehr abgeändert oder ganz verloren gehen kann.“ Dann gibt er Charakteristika für die einzelnen Intervalle an, z.B. die steigende Oktave fröhlich, mutig, aufmunternd, die fallende Oktave sehr beruhigend. Oder die kleine Sekunde steigend traurig, fallend angenehm. Was für ein Unterschied im Raum zwischen einer kleinen Sekunde und einer Oktave!

Als das Vogler Quartett mit György Kurtág sein Quartett op.1 geprobt hat, war er immer sehr darauf bedacht, dass wir weit auseinanderliegende Intervalle (also weiter als eine Oktave) transponierten und in der am engsten zusammenliegenden Variante aushörten, bevor wir die manchmal über mehrere Oktaven gespreizten Urintervalle spielen durften. Intervalle wirklich zu hören, die so weit auseinanderliegen, dass das Cello im tiefsten Bass und die Violine im höchsten Diskant spielt, will langsam und sorgfältig gelernt sein.

Ich wünsche Ihnen vielfältige Erlebnisse beim Betreten der musikalischen Klangräume an der HfMDK und anderswo.

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