„Im Idealfall entwickeln die Studierenden für sich neue Perspektiven.“

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Manche halten die Musikwissenschaft in Deutschland nach wie vor für konservativ. Dabei baut sie längst Brücken, überallhin.

TEXT: Prof. Dr. Christina Richter-Ibáñez

Als neue Professorin für Musikwissenschaft vertrete ich an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt die Musikkulturen des 20. und 21. Jahrhunderts, zu denen sowohl notierte Kompositionen in der Nachfolge der Avantgarden als auch massenmedial verbreitete populäre Musik sowie die Aufführung und Bearbeitung älterer Werke im aktuellen Konzertbetrieb gehören. Das heißt, ich verbinde stets historische Fragestellungen mit zeitgenössischen Praktiken, zum Beispiel wenn ich (wie in diesem Wintersemester) die Quellenlage und Interpretationsgeschichte eines historischen Werks – „Musikalisches Opfer“ von Johann Sebastian Bach – und dessen Adaption in verschiedenen Künsten (u. a. Literatur und Film) thematisiere.

Dann berühren sich historische Forschung, Aufführungspraxis und populäre Kultur, und es geht auch um Musikvermittlung, um Akteur*innen, Konzepte und Kontexte des musikkulturellen Tuns, um Übersetzung und Aneignung alter und neuer Klänge in verschiedenen Medien. Die Denomination „Performance Studies, zeitgenössische und populäre Musik“ ermöglicht es mir, in der Lehre das aktuelle Musikleben in den Blick zu nehmen, seine ökonomischen und soziologischen Grundlagen und seine Geschichte mit den Studierenden zu diskutieren sowie neue Gestaltungsmöglichkeiten zu konzipieren.

Ich hatte das Glück, bereits im Studium Einblick in die Historische und Systematische Musikwissenschaft sowie die Musikethnologie zu erhalten. Durch mein persönliches Interesse an der Musikgeschichte Lateinamerikas bemerkte ich früh, dass der im 20. Jahrhundert vorherrschende Blick der Historischen Musikwissenschaft auf europäische und nordamerikanische Werke einengt. Daher erweiterte ich meine Perspektive über traditionelle Fachgrenzen und Kontinente hinaus, gründete das transatlantische Forschungsnetzwerk Trayectorias und nahm an dem internationalen Forschungsprojekt Towards a Global History of Music teil. Obwohl ich durch meine frühere Tätigkeit im Konzertmanagement mit Schwerpunkt Neue Musik und meine Dissertation über Mauricio Kagel mit einem Bein in der Forschung zur komponierten Musik seit 1910 verwurzelt bin, streckte ich das andere in den vergangenen Jahren zur Popmusikforschung und deren Methodik aus. Dass aus dem Spagat heraus nun beide Beine zusammen hier in Frankfurt ein Fundament haben, zeigt, dass die Bereiche sinnvoll miteinander verknüpft werden können.

Obwohl ich hauptsächlich historisch forsche, fordern meine Themen den Einbezug von Methoden anderer Fachgebiete und vielseitiger Quellen. Notierter Notentext ist dann nur eines von vielen Elementen für die Analyse einer Komposition, die musikalische Interaktion der Interpret*innen während der Performance, der Aufführungskontext, die Funktionalität, die Reaktionen des Publikums und vieles mehr bilden weitere Bausteine.

Die Musikwissenschaft in Deutschland wird manchmal als konservativ, als zu sehr am eurozentrischen Kanon orientiert und als zu philologisch empfunden. Die zunehmende Spezialisierung und Detailfragen in der Forschung können zudem dazu führen, dass Musikwissenschaftler*innen sich von den allgemeinen Erwartungen in der praktischen Ausbildung entfernen. Dabei ist Musikwissenschaft als Querschnittsfach gerade an einer künstlerischen Hochschule ein wichtiger Baustein der umfassenden Persönlichkeitsbildung, es kann theoretische Grundlagen legen und allgemeine Fähigkeiten für die zukünftige künstlerische Arbeit der Studierenden vermitteln. Zum Beispiel zeigte sich gleich in meinem ersten Semester in Frankfurt, dass das wissenschaftliche Nachdenken über Inszenierungsstrategien in der populären Musik (namentlich das Verhältnis von real person,  performance persona und song character in der Terminologie von Philip Auslander) den Studierenden auch für eigene Auftritte wichtige Impulse gibt.

Aktuell verändert sich insbesondere die Historische Musikwissenschaft: Sie öffnet sich Fragen der Diversität (Gender, Race, Class) und orientiert sich globaler. Seit dem 19. Jahrhundert liegt es zudem nahe, Musikgeschichte als eine Technik-, Sozial- und Kulturgeschichte zu denken, statt Werke und Komponisten (!) als Heroen in den Mittelpunkt zu stellen. So wie ich als Musikwissenschaftlerin meinen eigenen Ausgangspunkt, den Forschungsstand, die bestehenden Vorannahmen und benutzten Werkzeuge reflektiere, möchte ich mit den Studierenden Praktiken in der jüngeren Musikgeschichte befragen und beschreiben. Dazu gehört der kritische aber auch kreative Umgang mit Quellen, das Reflektieren des aktuellen Musiklebens und der eigenen Position darin. Im Idealfall werden die Studierenden selbst zu Forschenden und entwickeln neue Perspektiven auf das Repertoire und ihre eigene Zukunft.

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