Christopher Brandt

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5.17 Uhr: Für Christopher Brandt, Professor für Gitarre und Dekan im Fachbereich 1, beginnt der Tag heute früh. Er klärt auf: Künstler*innen haben kein bisschen mehr Zeit als andere, ihre Tage sind vollgepackt und lang. Was man von künstlerischen Prozessen lernen kann?

TEXT: CHRISTOPHER BRANDT

„Und was machen Sie tagsüber?“ – das ist nicht nur eine Frage, die Kunstschaffenden und Performer*innen gelegentlich nach abendlichen Aufführungen von „interessierteren Lai*innen“ gestellt wird, sondern auch ein Running Gag unter Musikern, Schauspielerinnen und anderen performativ Tätigen, der das eigene Tagwerk augenzwinkernd legitimiert und einem hilft, das Berufsfeld nicht lediglich auf das abendliche Ergebnis zu reduzieren. Denn das Tagwerk ist lang. Es wird geübt und trainiert, in der Regel mehrere Stunden am Tag, auch sonn- und feiertags, frühmorgens (ich habe heute um 5:17 angefangen, weil der Tag voll wird und später keine Zeit mehr ist), vormittags, nachmittags, nachts.

Man probt zusammen (denn Üben und Proben sind verschiedene Tätigkeiten, wer jenes nicht tut, bekommt früher
oder später bei diesem Probleme); Noten müssen eingerichtet werden, Fingersätze gemacht, Textbücher präpariert, Editionen und Fassung verglichen, Hintergründe recherchiert, Stücke analysiert. Konzerte werden akquiriert, es wird mit Veranstalterinnen und Kulturämtern kommuniziert, Social-Media-Kanäle werden bespielt, Audio- oder Videodemos produziert, Konzertprogramme entworfen, zwischendurch wird man unterrichtet, oder gecoacht, oder spricht mit seinem Dramaturgen, kauft neue Saiten, baut Rohre, feilt sich die Nägel, macht Dehnübungen und Krafttraining, Feldenkrais, Alexandertechnik, Meditation, Stressreduktion. Alles für die Kunst.

Pädagogisches: Kein Beiwerk, sondern integraler Bestandteil

Wenn man darüber hinaus noch so privilegiert ist, sich zu Studienzwecken an einer Kunsthochschule zu befinden, kommt noch einiges hinzu: Neben dem künstlerischen Einzelunterricht theoretische Fächer, Musiktheorie, Hörschulung, Pädagogik, Musikwissenschaft, Korrepetition, Dramaturgie, Philosophie, Tanztheorie. Es werden Hausarbeiten geschrieben und Referate gehalten, Choräle ausgesetzt, Fugenexpositionen und Zwölftonreihen konzipiert, es wird gelesen zur Klavierdidaktik im 19. Jahrhundert (damals haben die Leute übrigens deutlich mehr geübt als wir, warum wohl), zur Energietheorie von Ernst Kurth und zur Rolle des Glockenspiels bei Bruce Springsteen.

Für Lehrende – sei es an der Hochschule, am Konservatorium, der Musikschule oder privat – kommen noch diverse Unterrichtstätigkeiten hinzu, die Vor- und Nachbereitung, das Präparieren von Material, Erstellen von Arrangements, die Auswahl geeigneter Stücke, Kommunikation mit Studierenden, Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen, Organisation von Vortrags- und Klassenabenden. Diese pädagogischen Tätigkeiten – Erziehung im besten Sinne – gehören zur künstlerischen Existenz dazu, sie sind kein Beiwerk, sondern integraler Bestandteil, denn: „Education is not preparation for life; education is life itself“ (John Dewey).

Wie Kunst in die Gesellschaft wirken kann

Neben der Frage, was man so alles tagsüber macht, gibt es gelegentlich auch noch die Frage, was das alles soll. Für diese Frage sollte man dankbar sein, zeigt sie doch grundsätzliches Interesse an dem, was wir tun. Zumindest registriert sie, dass es so etwas wie Kunst und die Möglichkeit von künstlerischer Existenz überhaupt gibt, und das ist ja heutzutage auch nicht mehr selbstverständlich.

Wir befinden uns – als Künstlerpersönlichkeiten, aber auch als Institution – permanent in der Spannung, einen Kunstbegriff zu verteidigen, der sich kulturindustriellen und konsumorientierten Verwertungszwängen entziehen soll, und gleichzeitig eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, schlichtweg aber auch die finanziellen und ideologischen Ressourcen zu erschließen, die verhindern, dass wir – als Institution, als künstlerisches Individuum – unter die Räder kommen. Bei allem Idealismus dürfen wir nicht vergessen, dass wir einen Beruf ausüben, der angemessen bezahlt sein will, und an einer Institution wirken, die angemessen finanziell und räumlich ausgestattet werden sollte. Nur so kann unsere Kunst in die Gesellschaft wirken auf eine Art und Weise, die bitter notwendig ist und immer wichtiger wird.

Von künstlerischen Prozessen lernen

Das alles zu kommunizieren und zu erklären ist nicht so sehr die Aufgabe der Künstler*innen – ob ihre Kunst gesellschaftlich engagiert oder relevant ist, muss für den künstlerischen Prozess keine Rolle spielen (kann vermutlich auch nur begrenzt beeinflusst werden) – wohl aber der Institution, vor allem auch der Politik. Es wäre selbstverständlich wünschenswert, wenn die Bedeutung von Kunst für das Gemeinwesen – gerade, weil sie sich der spätkapitalistischen Nutzbarkeitsideologie zumindest partiell entziehen kann – auch auf gesellschaftlicher Ebene nicht nur stärker artikuliert, sondern auch verteidigt würde. Und es ist wohl eines der vielen Zeichen für die Dysfunktionalität der Gesellschaft, dass dem nicht so ist.

Was kann man von künstlerischen Prozessen lernen? Der Alltag vieler atomisiert sich, die Aufmerksamkeitsspanne sinkt, die Anforderungen steigen, kaum einmal bleibt die Zeit, innezuhalten, um in sich oder aus sich heraus zu gehen. Auch der Alltag an einer Kunsthochschule bleibt von diesen Entwicklungen nicht verschont. Hier tut sich ein neues Spannungsfeld auf: Künstlerische Prozesse haben eine Eigenzeit, die sich weder mit Studienstrukturen noch mit institutionellen Anforderungen vollends synchronisieren lässt. Mitunter muss der Kunst, durchaus subversiv, die Raumzeit gegeben werden, die sie benötigt, nicht die, welche vorgesehen ist. Diese Selbstermächtigung der Kunstschaffenden ist ein Akt der Freiheit, der jeden und jede inspirieren kann, und der in jedem Kunstwerk aufscheint, das man anzuschauen oder anzuhören sich die Zeit und die Muße nimmt.

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