Glücklich im „Tollhaus“ der Kontexte

Lesesaal der Tianjin Binhai Library: Weiße wellenförmige Bücherregale und Stufen.
Die 33.700 Quadratmeter große Tianjin Binhai Library (2017) mit einem leuchtenden, kugelförmigen Auditorium und raumhohen, kaskadenförmigen Bücherregalen dient nicht nur als Bildungszentrum, sondern auch als sozialer Raum und Kulturzentrum.(Photo: Ossip)
news

Le­sen ist eine Kul­tur­tech­nik. Das Be­nut­zen ei­ner Bi­blio­thek, die Su­che im Ka­ta­log muss ge­lernt wer­den. Aber das Schöns­te am Bi­blio­theks­be­such, am Ar­bei­ten und Ver­wei­len im Le­se­saal ist das, was man nicht ler­nen muss.

TEXT: MA­RIE WO­KA­LEK

Un­se­re Zeit, so for­mu­lier­te es Mi­chel Fou­cault Ende der 1960er Jah­re in sei­nem Text „Von an­de­ren Räu­men“,
sei eher ein Zeit­al­ter des Rau­mes als der Ge­schich­te. „Wir le­ben im Zeit­al­ter der Gleich­zei­tig­keit, des An­ein­an­der­rei­hens, des Na­hen und Fer­nen, des Ne­ben­ein­an­der und des Zer­streu­ten.“ Der Struk­tu­ra­lis­mus ver­su­che, „zwi­schen Ele­men­ten, die über die Zeit ver­teilt“ sind, „Be­zie­hun­gen her­zu­stel­len“ und sie „als ein Ne­ben­ein­an­der, als ein Ge­gen­über, als et­was Ver­schach­tel­tes“ er­schei­nen zu las­sen. In die­ser Per­spek­ti­ve zeigt sich die Welt als ein räum­li­ches Netz aus sich kreu­zen­den Strän­gen, die ver­schie­de­nen Punk­te zu Kon­fi­gu­ra­tio­nen ver­bin­den.

Die Er­fah­run­gen, die wir heu­te in den di­gi­ta­len Räu­men des In­ter­nets ma­chen, pas­sen gut zu Fou­caults Skiz­ze un­se­res Zeit­al­ters als Netz aus Kon­fi­gu­ra­tio­nen. Für mich wäre das Zeit­al­ter des Di­gi­ta­len ohne kon­kre­te Bi­blio­theks­räu­me ge­ra­de des­halb ein Alb­traum­raum.

Raum und Ort

Das Sub­stan­tiv Bi­blio­thek meint im Deut­schen zu­nächst den kon­kre­ten Auf­stel­lungs­ort ei­ner Bü­cher-, No­ten-, Me­di­en­samm­lung in ei­nem Ge­bäu­de – ei­nen Bü­cher­saal. Im über­tra­ge­nen Sin­ne wird manch­mal auch die in­di­vi­du­ell zu­sam­men­ge­stell­te Samm­lung von Bü­chern, die man bei Orts­wech­seln mit sich nimmt (bzw. auf der Flucht meist nicht mit sich neh­men kann, was die Ent­wur­ze­lung ver­schärft) Bi­blio­thek ge­nannt.

»Die Bibliothek steht da wie eine Leiter ins Unendliche.«Alfred Polgar: Kleine Schriften

Eine Bi­blio­thek ist für mich ein Ort, der es mir er­laubt, mich auf den Ent­de­ckungs­tou­ren zu den Kon­fi­gu­ra­tio­nen und Kreu­zungs­punk­ten, die die Bü­cher oder die Par­ti­tu­ren ber­gen, zu ver­lie­ren. Hier kann ich ohne ro­ten Fa­den in La­by­rin­the hin­ein­ren­nen, mir mei­ne Ge­dan­ken­net­ze knüp­fen und im­mer wie­der ab­stür­zen. In der Un­end­lich­keit des Denk­raums, den die Be­stän­de er­öff­nen, blei­be ich den­noch ab­ge­si­chert durch mei­ne kör­per­li­che An­we­sen­heit am kon­kre­ten Ort des Le­se­saals. Sei­ne Ar­chi­tek­tur – so schä­big oder gran­di­os sie auch sein mag – die ge­wach­se­ne Ord­nung sei­ner Be­stän­de, die Ma­te­ria­li­en, die um mich her­um auf dem Tisch ver­teilt lie­gen, mei­ne rech­te und mei­ne lin­ke Hand, die die­se Ge­gen­stän­de hin- und her­schie­ben, sor­tie­ren, sta­peln: All dies bie­tet mir den drei­di­men­sio­na­len Halt, der für die Ori­en­tie­rung im Den­ken ent­schei­dend ist.

Kör­per­lich­keit, sinn­li­ches und so­zia­les Er­le­ben

Le­sen ist eine Kul­tur­tech­nik. Das Be­nut­zen ei­ner Bi­blio­thek, die Su­che im Ka­ta­log muss ge­lernt wer­den. Aber das Schöns­te am Bi­blio­theks­be­such, am Ar­bei­ten und Ver­wei­len im Le­se­saal ist das, was man nicht ler­nen muss: schau­en, hö­ren, spü­ren, rie­chen, schla­fen, gäh­nen, sich stre­cken, auf­ste­hen, hin­set­zen, her­um­lau­fen, auf Tritt­ho­cker oder Lei­tern stei­gen. Die Sinn­lich­keit des gan­zen Vor­gan­ges und sei­ne so­zia­le Di­men­si­on stellt je­des Wi­schen und Tip­pen auf der klei­nen Schei­be zu Hau­se auf dem Sofa in den Schat­ten. In der Bi­blio­thek ist es still, Pa­pier ra­schelt, je­mand spricht zu laut oder lässt beim An­schal­ten des Lap­tops den ner­vi­gen Win­dows-Sound tö­nen. Ir­gend­wo schnarcht je­mand, niest. Es riecht stau­big oder zu stark nach Par­fum. Ein Fens­ter schlägt. Die Son­ne blen­det oder es ist zu dun­kel.

»In Bücher gehen wir hinein/ wie in Gasthäuser/ hungrig durstig/ ausgehungert.«Thomas Bernhard: Ritter, Dene, Voss

Im Le­se­saal bil­den alle Le­sen­den und Ler­nen­den ei­nen so­zia­len Kör­per, der at­met, denkt, träumt. Man trifft Per­so­nen, die man un­be­dingt wie­der­se­hen woll­te und oft ge­nug die, de­nen man ei­gent­lich aus dem Weg ge­hen woll­te. Meist plau­dert man viel zu lang am Ko­pie­rer, am Kaf­fee­au­to­ma­ten, an der Aus­lei­he – und kommt da­bei auf die bes­ten Ide­en.

Ord­nung, nahe am Wahn­sinn

Fou­cault zählt in sei­nem oben zi­tier­ten Text die Bi­blio­the­ken zu den so­ge­nann­ten „an­de­ren Räu­men“, zu den „Ge­gen­or­ten“. Er nennt die­se Orte „He­te­ro­to­pi­en“, „tat­säch­lich ver­wirk­lich­te Uto­pi­en“. Bi­blio­the­ken zeich­ne­ten sich als He­te­ro­to­pi­en da­durch aus, dass in ih­nen, so Fou­cault, „die Zeit un­ab­läs­sig an­ge­sam­melt und auf­ge­sta­pelt wird“. Wie das Kino oder das Thea­ter stel­len auch Bi­blio­the­ken ver­schie­de­ne, mit­ein­an­der ei­gent­lich un­ver­träg­li­che Räu­me an ei­nem ein­zi­gen Ort ne­ben­ein­an­der.

Das grenzt an Wahn­sinn. Und dass jede Ord­nung „ge­ra­de in die­sen Be­rei­chen nichts als ein Schweb­zu­stand überm Ab­grund“ ist, wie Wal­ter Ben­ja­min in „Ich pa­cke mei­ne Bi­blio­thek aus“ schreibt, ist längst zu ei­nem li­te­ra­ri­schen To­pos ge­wor­den. Die Ar­chi­tek­tur ist auf­ge­for­dert, für die­sen Schwe­be­zu­stand eine pas­sen­de Form zu fin­den.

»'Herr Bibliothekar,‘ rufe ich aus ‚Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir das Geheimnis verraten zu haben, wie Sie sich in diesem […] Tollhaus von Büchern zurechtfinden.‘«Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

So un­voll­kom­men die Ord­nung der Be­stän­de auch sein mag, ei­nen un­ver­zicht­ba­ren Vor­teil ge­gen­über den rein di­gi­ta­len Räu­men wird die Be­nut­zung von Hand­me­di­en in ei­nem kon­kre­ten ar­chi­tek­to­ni­schen Raum im­mer ha­ben: Die Auf­stel­lung zeigt mir die Kon­tex­te und schickt mich nicht auf eine alb­traum­haft end­los da­hin­flie­ßen­de Wel­le von Hy­per­link zu Hy­per­link.

Au­torin

Mehr zum Thema

Schwarz-weiß Bild einer jungen Frau, die im Foyer der HfMDK an einem Geländer hängt, wie an einer Turnstange.
(Foto: Maximilian Borchardt)

|

Wie viel ist ge­nug? Zwi­schen Über­fluss und Man­gel, zwi­schen krea­ti­ver Fül­le und not­wen­di­ger Re­duk­ti­on: Wir fra­gen, wann we­ni­ger mehr sein kann – und wann ganz si­cher nicht. Ein Blick auf künst­le­ri­sche Pra­xis, Bil­dungs­ge­rech­tig­keit und ak­tu­el­le Hoch­schul­po­li­tik.