„Das Ideal ist für mich ein Labor“

interview

Lydia Rilling ist seit März dieses Jahres die künstlerische Leiterin der Donaueschinger Musiktage, eines der renommiertesten Festivals für Neue Musik. Im Gespräch mit Prof. Florian Hölscher beschreibt sie ihre Pläne.

Florian Hölscher: Die Donaueschinger Musiktage sind das wichtigste und traditionsreichste Festival für zeitgenössische Musik auf der Welt. Hier wird seit 1921 Zukunft gestaltet. Wie ist das, wenn man einer Komponistin oder einem Komponisten mit einem Vorlauf von drei Jahren einen Auftrag geben soll? Ist das eine Wette auf eine Vision?

Lydia Rilling: Das ist Ausdruck des Vertrauens und zugleich die Einladung, künstlerische Visionen zu entwickeln. Ein Kompositionsauftrag ist für mich immer Ergebnis eines Dialoges und eines Pro­ zesses, die ganz unterschiedlich gestaltet sein können. Manche Komponistinnen oder Komponis­ ten sind seit langem auf den Bühnen zeitgenössischer Musik präsent und mit einigen arbeite ich seit Jahren immer wieder zusammen; andere sind den hiesigen Szenen noch unbekannt und ich möchte ihnen bei den Musiktagen ein Forum bieten. Grundsätzlich ist es für mich entscheidend, gemeinsam zu schauen, was an diesem Punkt ihrer künstlerischen Entwicklung für sie besonders wichtig und in­ teressant ist. Ich frage sie oft, was ihr Traum ist, was sie noch nie machen konnten. Und dann schau­ en wir, ob das Festival die Möglichkeiten bietet, das zu realisieren.

Lydia Rilling steht in einem hellen Raum an ein Geländer gelehnt. Boden und Wände sind weiß.
Lydia Rilling(Foto: www.journal.lu)

Florian Hölscher: Werden in Donaueschingen eher aktuelle Positionen „ausgestellt“ oder Wege abgetastet und Modelle erprobt? Ist das Festival eher Klangmuseum oder Labor?

Lydia Rilling: Das Ideal ist für mich ein Labor, in dem Dinge erprobt und gewagt werden, die andernorts nicht mög­ lich sind. Ich sage auch deshalb Ideal, weil die Geschichte des Festivals für nicht wenige Komponis­ tinnen und Komponisten eine Bürde sein kann, die sie einschüchtert oder mit dem Anspruch erfüllt, dass es besonders verrückt oder gigantisch sein muss. Mein Ziel ist es, über die nächsten Jahre das Festival als Möglichkeitsraum zu öffnen. Wo, wenn nicht in Donaueschingen, sollte es möglich und erlaubt sein, Erwartungen nicht zu erfüllen, in bestimmter Hinsicht vielleicht auch künstlerisch zu „scheitern“, was immer das in dem spezifischen Fall auch bedeuten mag? Das ist für mein Grund­ verständnis des Festivals zentral. Die Erwartungen des Publikums sind oft immens angesichts der Klassiker, die in Donaueschingen uraufgeführt wurden. Weite Teile des Publikums sind hochprofes­sionalisiert und haben unglaublich viel gehört im Laufe der Jahre. Ich möchte dafür werben, Kompo­nistinnen und Komponisten den Vertrauensvorschuss zu geben, den Werke immer brauchen, ihnen offen zu begegnen und sie auch tatsächliche Risiken eingehen lassen zu dürfen.

»Kunstwerke im digitalen Raum können eine ihnen spezifische Kraft und Wirkung entwickeln, wenn sie gezielt für den digitalen Raum konzipiert sind.«Lydia Rilling

Florian Hölscher: Die Rezeption von Musik verändert sich, nicht erst seit der Pandemie. Ist der Rückzug in den privaten Raum eine Gefahr für den Konzertbetrieb? Wie viel Öffentlichkeit braucht aktuelle Musik?

Lydia Rilling: Aktuelle Musik bedarf zwingend der Öffentlichkeit, aber es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass der private Raum keine Formen von Öffentlichkeit erlaubt, wie innovative Formate von digi­taler Musikpräsentation in den letzten zwei Jahren gezeigt haben. Ein Festival wiederum zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es einen sozialen Raum des gemeinsamen Musikhörens und des Aus­tauschs bietet, dass es ein soziales Ereignis ist. Die Pandemie hat uns eindrücklich spüren lassen, wie viel wir verlieren, wenn wir uns nicht mehr vor, im und nach dem Konzert begegnen.

Florian Hölscher: Hat die Live-Aufführung von Musik nach wie vor eine „Aura“, wie Walter Benjamin es formuliert hat? Wie viel kann davon auch in einen digitalen Raum übersetzt werden? Oder sind diese Kunstwerke im digitalen Raum schlicht andere Kunstwerke, die vielleicht in Zukunft auch mehr und mehr entstehen?

Lydia Rilling: Letzteres. Kunstwerke im digitalen Raum können eine ihnen spezifische Kraft und Wirkung entwi­ckeln, wenn sie spezifisch für den digitalen Raum konzipiert sind. Das ist eine der wichtigen Erkennt­nisse der Pandemie, dass die Simulation von Live­-Aufführungen im digitalen Raum zwangsläufig scheitern muss. Das tatsächliche künstlerische Potential des digitalen Raums ist gerade im Hinblick auf zeitgenössische Musik erst zu erschließen, und darin sehe ich auch eine Aufgabe der Musiktage, nicht zuletzt, weil das Festival vor Ort in Donaueschingen stattfindet, aber natürlich auch weit darü­ber hinaus.

Florian Hölscher: Das klassische Konzert ist eine ziemlich hierarchische Angelegenheit. Passt das überhaupt noch in eine partizipativ, interaktiv und demokratisch geprägte Gesellschaft? Können wir uns Meisterwerke in alternativen Konzertformaten vorstellen?

Lydia Rilling: In der zeitgenössischen Musik sind in den letzten Jahrzehnten viele andere Konzeptionen entwickelt worden, wie Musik gespielt und gehört werden kann und welche – nicht nur räumlich – Position den Musikhörenden dabei zukommt. Das Format des Konzertes sollte nicht synonym gesetzt werden mit seiner traditionellen Form, selbst wenn diese natürlich immer noch sehr dominant und ihr großes Potential unbestritten ist. Die Idee, dass dieses Format zwingend hierarchisch und das Publikum nur „empfangend“ sei, ist allerdings stark simplifizierend, wie nicht zuletzt die Rezeptionsforschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat. Davon abgesehen ist diese Form des Konzerts eben nur eine von vielen Möglichkeiten, wie man heute Musik aufführen und erleben kann. Die Vorstellung von Meisterwerken wiederum kommt aus einer vergangenen Zeit und passt nicht mehr in und zu unserer heutigen Gesellschaft, in der selbst im klassischen Bereich der Kanon zunehmend aufgebrochen wird.

Florian Hölscher: Wird ein Festival in der Zukunft automatisch diverser, weil das Musikleben sowieso diverser wird?

Ein Automatismus ist es sicher nicht, das sieht man schon beispielsweise daran, dass es seit mehr als 10, 15 Jahren sehr viele interessante Komponistinnen zwischen 30 und 40 gab, aber diese nicht entsprechend präsent waren bei allen Festivals. Dafür gibt es strukturelle Gründe, die nicht plötzlich verschwinden, und genau deshalb ist es weiterhin eine sehr bewusste und notwendige Arbeit, die Diversität eines Festivals zu vergrößern beziehungsweise erst einmal zu schaffen.

Florian Hölscher: Es gibt erfolgreiche Komponistinnen und Komponisten, die sagen, dass sie von Donaueschingen nie einen Auftrag bekommen würden. In diesem Zusammenhang hört man immer wieder den Vorwurf, dass Festivalleitungen ihre eigenen Spielregeln absolut setzen.

Jedes Festival hat sein spezifisches Profil und seine spezifische Aufgabe. Die der Donaueschinger Musiktage sehe ich darin, künstlerisch visionäre Projekte zu ermöglichen, die andernorts nicht statt­ finden könnten. Es soll nicht verdoppelt werden, was auch an anderen Orten gemacht werden könn­te. Das war nie die Rolle der Donaueschinger Musiktage und das wird sie auch in Zukunft nicht sein. Nehmen wir zum Beispiel neue Orchesterwerke: Der klassische Konzertbetrieb bringt da oft viele Ein­schränkungen mit sich in Hinblick auf die Besetzung, die räumliche Anordnung und die Probenzeit. Die Donaueschinger Musiktage haben da ganz andere Möglichkeiten, was mit den räumlichen Ge­gebenheiten der Aufführungsorte, den langen Probenzeiten wie auch mit der Erfahrung und der Of­fenheit des SWR Symphonieorchesters zusammenhängt. Komponistinnen und Komponisten wissen, dass sie für dieses Orchester ganz andere Werke wagen können. Und deshalb sollten diese Möglich­keiten gerade Künstler*innen zur Verfügung gestellt werden, die genau solche Bedingungen künstle­risch produktiv machen und dazu im Rahmen des klassischen Betriebs gar keine Chance hätten.

Lydia Rilling

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