„Wir brauchen Typen“

Martina Voss-Tecklenburg, Bundestrainerin der DFB-Frauennationalmannschaft
(Foto: DFB)

Was haben ein Dirigent und eine Fußballtrainerin als Führungsfiguren gemeinsam? Welche Rolle spielt Persönlichkeit im Team? Wie gelingt erfolgreiche Führung in einer Zeit, in der das Diktat von oben einem Beteiligungsgedanken gewichen ist? Es sind Fragen zu Freundschaft im Team, zur Hierarchie und zu Führungsstrukturen, die HfMDK-Präsident Prof. Elmar Fulda der Bundestrainerin der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft stellt. Sein Interview mit Martina Voss-Tecklenburg aus dem Jahr 2021 bestätigt: Künste und Sport können viel voneinander lernen. Ein Blick zurück aus Anlass des EM-Finales Deutschland gegen England.

Dokumentation: Björn Hadem

Das Interview erschien ursprünglich im Oktober 2021 in unserem Magazin

Elmar Fulda: „Elf Freunde müsst ihr sein“ lautet der Titel des berühmten Fußballromans von Sammy Drechsel, einst legendärer Sportreporter. Beschreibt dieses Motto ein für Sie heute noch gültiges Team-Modell im Fußball?

Martina Voss-Tecklenburg: Unser Team besteht aus deutlich mehr Menschen, auch wenn nur elf auf dem Platz stehen. Ansonsten schließt für mich ein freundschaftliches Miteinander nicht aus, dass es Hierarchien wie unterschiedliche Rollen gibt, die Menschen zu erfüllen und zu akzeptieren haben. Ich erlebe aber in der Tat, dass es in Teamsituationen hilfreich ist, wenn man miteinander befreundet ist und sich vertraut.

Elmar Fulda: Von wie vielen Menschen sprechen wir rund um Ihre Mannschaft?

Martina Voss-Tecklenburg: Der offizielle Kader definiert 23 Spielerinnen – coronabedingt lag er zwischenzeitlich bei bis zu 28. Das „Team hinter dem Team“ ist um ein Vielfaches größer: Neben der fünfköpfigen sportlichen Leitung gibt es 21 weitere direkte Mitarbeiter – von der Sportpsychologin zum Medical Team, vom Spiel-Analysten bis zum Koch. Alles in allem – die Delegation mit eingerechnet – sprechen wir von rund 70 Personen, die für ein Spiel im Tross unterwegs sind. Und hier ist jede einzelne wichtig. Auch deshalb, weil einige von ihnen Fähigkeiten mit einbringen, die wir erst nach und nach entdecken und uns gern zunutze machen. Deswegen ist es mir ein Anliegen, alle Menschen hinter ihrer offiziellen Funktion kennenzulernen.

»Meine größte Herausforderung war anfangs als Trainerin, nicht mehr selbst spielen und damit weniger direkten Einfluss auf den Spielverlauf nehmen zu können.«Martina Voss-Tecklenburg

Elmar Fulda: Unsere Schauspieler kennen die Standardfrage: „Was machst du eigentlich tagsüber?“ Welche Antwort können Sie uns darauf geben? Die Nationalmannschaft spielt ja nicht allzu oft.

Martina Voss-Tecklenburg: Das kenne ich – „du bist ja Bundestrainerin, aber was machst du denn noch so?“ 80 bis 120 Tage im Jahr bin ich mit der Mannschaft unterwegs. Darüber hinaus beobachte ich viele Spiele, besuche und leite Workshops zur Entwicklung der strukturellen Arbeit beim DFB, kümmere mich um unsere U-Nationaltrainerinnen, reise zu Maßnahmen der U-National-Teams, bin mit Interviews und Podcasts viel in der Öffentlichkeitsarbeit eingespannt. Wir besprechen uns regelmäßig und ausgiebig im Team. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Trainer-Fortbildungen.

Elmar Fulda: Lässt sich Ihr Trainer-Job mit einem Dirigenten vergleichen, der vor dem Orchester steht, inspirieren und führen soll, aber nicht selbst mitspielen kann?

Martina Voss-Tecklenburg: Ja, absolut! Meine größte Herausforderung war anfangs als Trainerin, nicht mehr selbst spielen und damit weniger direkten Einfluss auf den Spielverlauf nehmen zu können.

Elmar Fulda: Wie „dirigieren“ Sie als Trainerin?

Martina Voss-Tecklenburg: Der größte Teil meiner Arbeit liegt vor dem Spiel – ähnlich wie bei einem Orchester, bei dem das Konzert die „Belohnung“ für die gute Probenarbeit ist. Während eines Fußballspiels kann ich am Feldrand ein wenig Detail- und Einzelcoaching betreiben und taktische Veränderungen vorgeben, vor allem in der Pause. Taktische Umstellungen und Auswechslungen können das Spiel verändern – ob sie es verbessern, bleibt dann abzuwarten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Spielerinnen schon vorher wissen, was welche Taktik-Änderung für ihre Rolle auf dem Feld bedeutet. Außerdem müssen wir den Gegner schon vor dem Spiel gut analysiert haben. Rund 30 Prozent unserer Spielvorbereitung besteht darin, uns spezifisch auf den Gegner einzustellen. Als Orchesterfan gehe ich mit meinem Mann gern in die Oper oder in ein klassisches Konzert. Dann beobachte ich, wie ein Orchester im Sinne seiner Hierarchien und Strukturen „funktioniert“, um Parallelen für meine Arbeit zu entdecken. Ich will wissen: Wer schaut und hört da auf wen, warum klappt das Miteinander so gut oder eben auch nicht?

Elmar Fulda: Mit welchen Eigenschaften würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?

Martina Voss-Tecklenburg: Ich arbeite sehr teamorientiert und vertrauensvoll, emotional und authentisch. Ich übertrage den Spielerinnen Verantwortung, indem ich sie in taktische Entscheidungen einbeziehe und versuche, ihre Unterschiedlichkeiten herauszuarbeiten und zu nutzen. Anders formuliert: Wir wollen ihre Stärken stärken und Schwächen schwächen. In einem Team mit vielen Begabungen habe ich als Trainerin aber auch gelernt, dann und wann ein Stück von der Frontlinie zurückzutreten und die Stärken meines tollen Trainerteams zu nutzen. Manchmal ist zu viel Input auch kontraproduktiv.

Elmar Fulda: Sie meinen die Gefahr des „overcoachings“ – bei zu vielen „Verbotsschildern“ nicht mehr zu wissen, wo man hinfahren soll?

Martina Voss-Tecklenburg: Genau – weniger ist manchmal mehr. Unsere „Verkehrsschilder“ sind eher Mottos statt Verbote und sollen eine Dynamik auslösen – zum Beispiel das Stichwort „Maximalität“. Zudem bringen die Spielerinnen ihre eigenen Mottos ein, zum Beispiel „Spaß“, „Freude“ und „Fokus“. Um die Potenziale der Mannschaft optimal zu nutzen, interessiert es mich, welche Trainingsschwerpunkte die Spielerinnen an meiner Stelle in der Vorbereitung auf ein Turnier setzen würden. In diesem Sinne verstehe ich mich als Dienstleisterin. Dabei glaube ich an das Prinzip der Überzeugung: Wenn die Spielerinnen davon überzeugt sind, dass wir ihnen den bestmöglichen Plan für das Spiel auf dem Platz mitgegeben haben und sie in der Lage sind, ihn umzusetzen, ist die Erfolgschance groß.

»Gleichförmigkeit mag bequem erscheinen, führt aber nicht zum Erfolg.«Martina Voss-Tecklenburg

Elmar Fulda: Welche Erinnerungen haben Sie aus Ihrer Zeit als Spielerin an Trainerinnen, die mit Ihnen gearbeitet haben?

Martina Voss-Tecklenburg: Überwiegend angenehme. Ich habe in der Reflexion versucht, stets das Gute von ihnen zu übernehmen und gleichzeitig die eigene Persönlichkeit zu wahren. Die ist unabdingbar, um glaubwürdig zu sein. Gleichwohl werden Teams heute sicher anders geführt als noch vor 20 Jahren – nicht zuletzt deshalb, weil die Spielerinnen und Spieler heute alles direkter und unbedingter hinterfragen als früher: Sie sind extrem wissbegierig und wollen mitgenommen werden. Außerdem müssen sie sich mit neuen Themen beschäftigen – Social Media zum Beispiel.

Elmar Fulda: Was machen Sie als Trainerin heute anders als Ihre Kolleginnen früher?

Martina Voss-Tecklenburg: Heute beschäftigen sich die Trainer und ihr Team viel mehr mit den Menschen und deren Persönlichkeiten. Früher galt es, für ein gutes Spiel einfach in der Mannschaft ohne Widerstand „mitzumarschieren“. Heute lassen wir den Spielerinnen mehr Zeit und Entwicklungsräume für ihre Entfaltung, ohne direkt zu intervenieren. Ich glaube an Typen, weil sie das Spiel entscheiden. Wir brauchen Typen, um erfolgreich zu sein. Gleichförmigkeit mag bequem erscheinen, führt aber nicht zum Erfolg.

Elmar Fulda: Wie sehr fordern Sie Ihre Spielerinnen dazu heraus, an ihre eigenen Grenzen zu gehen?

Martina Voss-Tecklenburg: Wer im Sport etwas erreichen will, braucht Herausforderungen und Widerstände. Ohne sie entwickeln sich keine Lösungsstrategien. Deswegen ist es eine Aufgabe der Trainer, Herausforderungen oder gar Überforderungen zu konstruieren. Wenn wir in einem K.-o.-Spiel stehen, in dem der Druck immer größer wird, braucht es Persönlichkeiten, die dann auch noch „funktionieren“.

Elmar Fulda: Im Orchesterkonzert kann der Dirigent inspirieren, doch seine Koordinationsfunktion ist begrenzt. Wichtige Bezugspunkte sind der Konzertmeister, die Flöte und die Pauke beziehungsweise deren Aufeinander-Hören. Welche derartigen Bezugspunkte hat eine Fußballmannschaft im Spiel?

Martina Voss-Tecklenburg: Im Spiel ist die zentrale Achse wichtig – sie beginnt bei der Torhüterin, läuft über die zentralen Abwehrspielerinnen, die Mittelfeldposition und die zentrale Stürmerin. Außerdem braucht ein Team immer einen Bezugspunkt nach außen – der ist häufig die Spielführerin, die als „verlängerter Arm der Trainerin“ agiert. Mein Bezugspunkt zur Spielerbank ist die Co-Trainerin, sie wiederum steht in direkter Verbindung zum Videoanalysten, der das Spiel von oben im Blick hat und über Kopfhörer Input gibt.

Elmar Fulda: Gibt es Führungsspielerinnen, die nicht Teil der zentralen Achse sind, und umgekehrt solche auf zentralen Positionen, die aber nicht als Führungsspielerinnen agieren?

Martina Voss-Tecklenburg: Wir brauchen auf allen elf Positionen starke Persönlichkeiten. Im Zentrum brauche ich die, die auch verbal präsent sind. Aber nicht zu unterschätzen sind zugleich die „leiseren“ Spielerinnen, die aber stets anspielbar sind. Derlei Eigenschaften müssen wir kennen und nutzen. Generell beschäftigen wir uns intensiv mit Rollenfragen: Was will jemand einbringen und was erwartet er vom Team? Solche Aspekte gehen weit über das rein Sportliche hinaus und haben viel mit der ureigenen Persönlichkeit zu tun.

Elmar Fulda: Wie viel Persönlichkeit ist naturgegeben – und lässt sich ein Führungscharakter ausbilden?

Martina Voss-Tecklenburg: Beides spielt eine Rolle: Ich beispielsweise war schon in der Schule Klassensprecherin und hatte nie Probleme damit, vor einer Gruppe zu stehen, das war in Teilen sicher angeboren. Aber durch Erfahrung entwickeln sich Spielerinnen und verändern sich somit auch in ihrer Persönlichkeit. Bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen, hat für mich vor allem mit Sicherheit zu tun: Wenn sich Menschen in Räumen sicher fühlen und Vertrauen in ihre eigene Aktivität bekommen, können sie in Rollen hineinwachsen.

Elmar Fulda: Würden Sie die Behauptung unterstreichen, dass es keinen unpolitischen Sport gibt?

Martina Voss-Tecklenburg: Ja – auch, wenn man es sich anders wünscht. Sport kann einfach deshalb nicht unpolitisch sein, weil er ein Teil der Gesellschaft ist, und unsere Gesellschaft soll auch nicht unpolitisch sein. Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft.

Elmar Fulda: Gibt es in Ihrer Arbeit Grenzen des politisch Hinnehmbaren?

Martina Voss-Tecklenburg: Wenn wir in einem Land spielen sollten, wo Frauen stark diskriminiert und unterdrückt werden, muss ich mir die Frage beantworten, ob es der richtige Weg wäre, eine Teilnahme zu boykottieren, oder ob es Kraft unserer Präsenz wichtig wäre, auf Missstände aufmerksam zu machen. Eine solche Abwägung finde ich schwierig, zumal ich Teil einer großen Organisation bin. Ein politisches Signal des Sports sollte in jedem Fall eine Nachhaltigkeit haben und Veränderungen in Gang bringen. Für den Sport bleibt es aber eine Gratwanderung, sich politisch instrumentalisieren zu lassen.

Elmar Fulda: Im Jahr 1989 haben Sie als Spielerin bei der EM gewonnen und dafür ein Kaffee-Service geschenkt bekommen – haben Sie das noch?

Martina Voss-Tecklenburg: Ja, es steht bei mir im Schrank, ich benutze es auch. Das Kaffee- und Tafelservice erhielten wir als eine Art Geste, weil wir damals reine Amateure waren und keine Geldprämie bekommen durften – das gaben die Statuten gar nicht her. Die haben sich mittlerweile geändert: Wenn die Frauen einen Titel gewinnen oder in Turnieren sehr weit kommen, steht ihnen heutzutage eine Prämie zu.

Elmar Fulda: Wie würde Ihre Mannschaft reagieren, wenn alle noch einmal ein Paar Topflappen geschenkt bekämen?

Martina Voss-Tecklenburg: Sie würden den Humor verstehen und andererseits dafür kämpfen, dass sie an den Einnahmen partizipieren, da mit den großen Turnieren auch des Frauenfußballs mittlerweile viel Geld verdient wird. Bis dahin war es ein langer und weiter Weg. Aber die Veränderungen sollten weitergehen. Ein wünschenswerter Schritt in Richtung Gleichberechtigung wäre eine Angleichung der Bezahlung: bei den Männern ein bisschen weniger, bei den Frauen dafür etwas mehr.

Zur Person

Martina Voss-Tecklenburg wurde 1967 in Duisburg geboren. Als Spielerin gewann sie mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft vier Europameistertitel (1989, 1991, 1995 und 1997) und wurde 1995 Vizeweltmeisterin. Insgesamt absolvierte sie 125 Länderspiele, in denen sie 27 Tore erzielte. Dazu gewann sie – mit verschiedenen Clubs – sechs Mal die Deutsche Meisterschaft und vier Mal den DFB-Pokal der Frauen, wurde zudem zwei Mal zur "Fußballerin des Jahres" gewählt. Nach dem Ende ihrer aktiven Karriere im Jahr 2000 wechselte sie ins Trainerfach und kennt längst auch Frankfurt gut – vor allem als Sitz des Deutschen Fußballbunds (DFB): Bundestrainerin der 1982 gegründeten Frauen-Nationalmannschaft ist sie seit Ende 2018.

Die Fragen stellte

Coverbild des Magazins "Frankfurt in Takt" zum Thema Macht.

Frankfurt in Takt 21-2: Macht - Positionen und Strukturen

Alte Machtgefälle, neue Transparenz: Mit der „Frankfurt in Takt“ beteiligen wir uns an einer Diskussion, die Theater, Orchester, Kulturbetrieb und Gesellschaft umtreibt. Was bedeutet es, heute an einer Kunsthochschule zu studieren? Wie viel Demokratie steckt im Ensemble? Im Hochschulalltag, im Unterricht und auf der Bühne sind Studierende wie Lehrende mit Formen von Macht konfrontiert – in diesem Heft kommen sie zu Wort.

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