Kammermusik – auf der Suche nach der beständigen Beziehung?

Zwei Musikerinnen eines Streichquartetts während des Konzerts: Im Vordergrund eine Cellistin, im Hintergrund ein Bratschist.
(Foto: Lena Bils)
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Zwei und mehr gleich­be­rech­tig­te Ein­zel­stim­men ha­ben sich ge­fun­den – und ver­schmel­zen zu ei­nem gro­ßen Gan­zen. Das ist ge­lin­gen­des Zu­sam­men­spiel. Manch­mal wird so­gar eine Le­bens­ge­schich­te dar­aus. Nur: Wie funk­tio­niert das idea­le „Sys­tem“ En­sem­ble?

TEXT: TIM VOG­LER

An der HfMDK gibt es bei knapp 1.000 Stu­die­ren­den der­zeit an die 85 Kam­mer­mu­sik­ensem­bles ver­schie­dens­ter Zu­sam­men­set­zun­gen. Die­se er­staun­lich gro­ße An­zahl er­klärt sich dar­aus, dass es so­wohl En­sem­bles gibt, die in ei­ge­nen Stu­di­en­gän­gen (Mas­ter und Kon­zert­ex­amen) Kam­mer­mu­sik pro­fes­sio­nell stu­die­ren, als auch dar­aus, dass alle in­stru­men­ta­len Stu­di­en­gän­ge Kam­mer­mu­sik im Pflicht- und Wahl­be­reich an­bie­ten.

Pflicht be­deu­tet, dass alle Stu­die­ren­den in ei­ner be­stimm­ten Se­mes­ter­an­zahl Kam­mer­mu­sik spie­len müs­sen. Wahl heißt, dass sie dar­über hin­aus in zu­sätz­li­chen Kam­mer­mu­sik­pro­jek­ten oder -En­sem­bles mit­wir­ken kön­nen. In bei­den Fäl­len gibt es für ein fest­ge­leg­tes Ar­beits­pen­sum so­ge­nann­te Credit Points (CPs), die zum er­folg­rei­chen Ab­schluss des Stu­di­ums be­nö­tigt wer­den (30 Stun­den Workload pro CP).

Schaut man sich die En­sem­ble­struk­tur ge­nau­er an, dann ist zu er­ken­nen, dass in der Zu­sam­men­set­zung (vom Duo über Trio und Quar­tett bis zum Ok­tett) ver­schie­dens­te Be­set­zun­gen zu fin­den sind. Es gibt pro­jekt­ge­bun­de­ne En­sem­bles, die sich für ei­nen spe­zi­el­len An­lass zu­sam­men­ge­fun­den ha­ben, ge­nau­so wie die­je­ni­gen, die ein gan­zes Se­mes­ter mit­ein­an­der ar­bei­ten. Be­son­ders schön ist es, wenn ein En­sem­ble län­ger­fris­tig, also über meh­re­re Se­mes­ter oder gar Jah­re hin­weg, zu­sam­men­bleibt, bis hin zu ei­ner wirk­lich lang­fris­ti­gen Bin­dung in ein ge­mein­sa­mes Be­rufs­le­ben hin­ein. Das ist be­reits ei­ni­gen Frank­fur­ter Streich­quar­tet­ten aus der HfMDK ge­lun­gen, ich den­ke da an das Aris, das Eli­ot oder das Ma­li­on Quar­tett. Wei­te­re wer­den be­stimmt fol­gen.

Professor Tim Vogler mit einer Violine
Tim Vogler ist Professor für Streicherkammermusik an der HfMDK und 1. Violinist des Vogler Quartetts.(Photo: Ramon Haindl)

Wie fin­den sich En­sem­bles?

Ich selbst bin in der DDR auf­ge­wach­sen, in Ost-Ber­lin. Be­reits wäh­rend der Schul­zeit an der Spe­zi­al­schu­le für Mu­sik habe ich zwei mei­ner spä­te­ren Quar­tett­kol­le­gen ge­trof­fen, wir wa­ren be­freun­det, al­ters­mä­ßig sehr nahe bei­sam­men und hat­ten ähn­li­che Träu­me oder Vor­stel­lun­gen vom spä­te­ren Le­ben. Die­se hat­ten im­mer mit Frei­heit zu tun, auch in Hin­blick auf eine spä­ter even­tu­ell mög­li­che Rei­se­frei­heit, die man in der DDR (man konn­te nicht frei über­all hin­rei­sen) im Mu­si­ker­be­ruf mit et­was Glück er­rei­chen konn­te. Spä­ter, an der Hoch­schu­le, tra­fen wir un­se­ren Brat­scher und grün­de­ten das Vog­ler Quar­tett, wel­ches in 2025 40 Jah­re in der­sel­ben Be­set­zung ge­mein­sam ge­spielt ha­ben wird. Wir wa­ren alle ähn­lich so­zia­li­siert, ent­we­der aus Mu­si­ker- oder Pfarr­fa­mi­li­en stam­mend, spra­chen die­sel­be Spra­che, hat­ten ähn­li­che In­ter­es­sen und ei­nen ge­mein­sa­men Hu­mor. Dar­aus ent­stand ein gu­ter Hu­mus für die vie­len fol­gen­den Jah­re.

An der HfMDK ent­ste­hen En­sem­bles auf ver­schie­de­nen We­gen. Am häu­figs­ten ist es, dass sich Stu­die­ren­de un­ter­ein­an­der fin­den. Viel­leicht möch­te je­mand Quar­tett spie­len und es feh­len noch Mit­spie­len­de. Öf­ter sind es be­reits zwei – viel­leicht be­freun­det –, die sich er­gän­zen­de Kam­mer­mu­sik­part­ner*in­nen su­chen. Eine an­de­re Mög­lich­keit ist die, sich als Ein­zel­spie­len­de an­zu­mel­den. In die­sem Fal­le wer­den dann von uns Pro­fes­sor*in­nen ein­zel­nen Stu­die­ren­de zu En­sem­bles zu­sam­men­ge­setzt.

Es kann in all die­sen Bei­spie­len pas­sie­ren, dass En­sem­bles ent­ste­hen, die gut, sehr gut oder viel­leicht auch nicht ide­al zu­sam­men­pas­sen. Grün­de da­für kön­nen grö­ße­re Al­ters­un­ter­schie­de sein oder ver­schie­de­ne Le­vel in­stru­men­ta­len Kön­nens. So ist vor­stell­bar, dass Stu­die­ren­de aus Sym­pa­thie zu­sam­men­fin­den, die fach­lich nicht zu­ein­an­der pas­sen. Oder sol­che, die sich nicht „ver­ste­hen“ und kei­ne ge­mein­sa­me Spra­che fin­den, die sich nicht ken­nen und ganz ver­schie­de­ne Spra­chen spre­chen.

Kammermusik-Trio im Konzert: Geige, Klavier, Violoncello
(Foto: Laura Brichta)

An ein­zel­nen Hoch­schu­len wur­den sys­te­ma­tisch En­sem­bles zu­sam­men­ge­setzt, die in­ho­mo­gen wa­ren, d. h. sehr gute Spie­ler muss­ten be­wusst mit weit we­ni­ger gu­ten zu­sam­men­spie­len, es wur­de ver­sucht, da­durch so­zia­le Kom­pe­ten­zen und To­le­ranz zu för­dern. In der Kam­mer­mu­sik­ab­tei­lung der HfMDK ver­su­chen wir – wenn zu­fäl­lig sol­che in­ho­mo­ge­nen Grup­pen ent­stan­den sind – mit ih­nen trotz­dem eine gang­ba­re Per­spek­ti­ve zu fin­den. Alle sol­len ler­nen, ihr Ge­gen­über an­zu­neh­men und sich auf Un­ter­schie­de ein­zu­las­sen. Die­se Un­ter­schie­de kön­nen im Üb­ri­gen auch kom­mu­ni­ka­ti­ver Art sein. Wäh­rend vie­le zu­ver­läs­sig und pünkt­lich sind, gibt es auch Ein­zel­fäl­le, die lang­sam sind in der Be­ant­wor­tung von Mails oder in der Ter­min­fin­dung. Un­pünkt­lich­keit ist dann und wann auch ein The­ma, was für die Mit­spie­len­den eine Be­las­tung wer­den kann. Ge­ra­de aus die­sen Din­gen aber lässt sich – ne­ben der Mu­sik – un­end­lich viel für das spä­te­re Be­rufs­le­ben ler­nen.

Wie ist es im Ide­al­fall?

Im Ide­al­fall fin­den sich Stu­die­ren­de ähn­li­chen Al­ters, mit ei­nem ho­hen in­stru­men­ta­len Kön­nen und ei­nem ech­ten In­ter­es­se an Kam­mer­mu­sik so­wie ei­ner Be­reit­schaft zu ge­mein­sa­mer In­ves­ti­ti­on in Zeit und re­gel­mä­ßi­ge Ar­beit. Es hilft, wenn eine ge­mein­sa­me Ziel­vor­stel­lung be­reits vor­han­den ist (Re­per­toire, Wett­be­wer­be o. ä.), was aber kei­ne Be­din­gung ist, denn vie­les kann mit der Zeit wach­sen. Man muss sich ge­gen­sei­tig mit­neh­men kön­nen, Ver­ständ­nis für­ein­an­der ha­ben. Und ge­mein­sa­me Nor­men und Um­gangs­for­men ent­wi­ckeln.

Pro­fes­sio­nel­le Kam­mer­mu­sik­ar­beit in ei­nem fes­ten En­sem­ble steht im­mer im Span­nungs­feld des kom­ple­xen stu­den­ti­schen All­tags der Ein­zel­nen, mit Stel­len in Or­ches­ter­aka­de­mi­en, mit So­lo­wett­be­wer­ben oder Pro­be­spie­len. In­ten­si­ve Kam­mer­mu­sik­ar­beit be­deu­tet in den meis­ten Fäl­len auch Ver­zicht auf an­de­res und eine Kom­pro­miss­be­reit­schaft in Be­zug auf den ei­ge­nen, per­sön­li­chen Ehr­geiz.

In mei­nem Quar­tett war es so, dass der 2. Gei­ger ei­ni­ge er­folg­rei­che Pro­be­spie­le ab­sol­vier­te. Er hat­te die Wahl zwi­schen gu­ten Stel­len in zwei To­por­ches­tern. Als nach ei­ni­gen Wo­chen be­reits klar war, dass das Quar­tett da­mit nicht so wei­ter­ma­chen konn­te, wie es ge­plant war, hat er wie­der ge­kün­digt. Und es bis heu­te nicht be­reut.

Fra­gen & Kon­takt

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Hör­tipp: Prof. Tim Vog­ler ist im Pod­cast FOY­ER­FUNK zu Gast. Be­glei­tend zum Ar­ti­kel in der „Frank­furt in Takt“ geht es in die­sen zwei Fol­gen um die lang­jäh­ri­ge Zu­sam­men­ar­beit in ei­nem Streich­quar­tett – mit all ih­ren Her­aus­for­de­run­gen und Glücks­mo­men­ten:

FOYERFUNK Nr. 24: Streichquartett – Ehe zu viert?

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Sie ha­ben über Jah­re hin­weg eine enge Be­zie­hung zu­ein­an­der: die Mu­si­ker*in­nen ei­nes Streich­quar­tetts. Aber wie fin­den vier Men­schen ei­nen ge­mein­sa­men Weg? Wel­che Fä­hig­kei­ten brau­chen sie, da­mit Zu­sam­men­spiel und Zu­sam­men­ar­beit lang­fris­tig ge­lin­gen? Clau­dia Pe­ter­mann hat Tim Vog­ler, den ers­ten Gei­ger im Vog­ler Quar­tett und Pro­fes­sor für Strei­cher­kam­mer­mu­sik an der HfMDK, und Li­lya Tym­chys­hyn, die Brat­schis­tin im Ma­li­on Quar­tett, in den FOY­ER­FUNK ein­ge­la­den. Mit ih­nen spricht sie über zwi­schen­mensch­li­che und mu­si­ka­li­sche Her­aus­for­de­run­gen und über die Grat­wan­de­rung zwi­schen In­di­vi­dua­li­tät und Ver­schmel­zung.

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FOYERFUNK Nr. 25: Gelingende Zusammenarbeit: Was wir vom Streichquartett lernen können

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Vier Stim­mun­gen, Zie­le, Mei­nun­gen. Die Mu­si­ker*in­nen ei­nes Streich­quar­tetts ar­bei­ten in­ten­siv zu­sam­men – da blei­ben auch Span­nun­gen nicht aus. Wie ver­han­deln Streich­quar­tet­te un­ter­schied­li­che In­ter­es­sen? Wie ge­hen sie mit Be­set­zungs­wech­seln um? Was sind Her­aus­for­de­run­gen aber auch Glücks­mo­men­te in der Zu­sam­men­ar­beit? Und für wel­che an­de­ren Kon­tex­te kann die Ar­beit im En­sem­ble ein Vor­bild sein? Dar­über spricht Clau­dia Pe­ter­mann auch in die­ser Fol­ge mit Tim Vog­ler, dem ers­ten Gei­ger im Vog­ler Quar­tett und Pro­fes­sor für Strei­cher­kam­mer­mu­sik an der HfMDK, und mit Li­lya Tym­chys­hyn, der Brat­schis­tin im Ma­li­on Quar­tett.

Wei­te­re Fol­gen un­ter Pod­cast

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