„Traum der elek­tri­schen Scha­fe“ – Wer­ke von Josquin Des­p­rez und Orm Fin­nen­dahl

Altes und Neues für Stimmen, Cembalo, Ensemble und Synthesizer

 

HfMDK, Großer SaalEschersheimer Landstraße 29,60322 Frankfurt am Main Auf Karte anzeigen
Neue Musik Nacht: Gesamtprogramm

Josquin Des­p­rez (1437-ca. 1520): „Une Mus­que de Bis­ca­ye“ (ca. 1500), 4-stim­mi­ges Ma­dri­gal
Sin­ger Pur, Ge­sang

Orm Fin­nen­dahl (*1963): „Or­dona­re­quin“ für mit­tel­tö­nig ge­stimm­tes Cem­ba­lo (2020) UA
Eva-Ma­ria Pol­le­rus, Cem­ba­lo

Orm Fin­nen­dahl (*1963): „Traum der elek­tri­schen Scha­fe“ für 6 Stim­men, vier Strei­cher und Syn­the­si­zer (2022) UA

Mar­ta Guil­len Pe­guer­oles, Vio­li­ne | Au­re­lia To­ri­ser, Vio­la | Sara Ro­que, Vio­lon­cel­lo | Za­cha­ri­as Fass­hau­er, Kon­tra­bass | Zhao­long Sun, Syn­the­si­zer | Ma­ria Rav­vina, Lei­tung

Sin­ger Pur:
Sa­rah M. New­man, So­pran | Chris­ti­an Meis­ter, Te­nor | Mar­cel Hub­ner, Te­nor | Ma­nu­el War­witz, Te­nor | Ja­kob Stei­ner, Ba­ri­ton | Si­las Bre­de­mei­er, Bass

 

Har­mo­ni­sche Par­ti­al­ton­rei­hen, die Ba­sis vie­ler Klän­ge tra­di­tio­nel­ler Mu­sik­in­stru­men­te, wer­den seit Jahr­tau­sen­den als In­diz für die „Na­tur“ der Klän­ge ver­wen­det: Nicht zu­letzt heißt die Par­ti­al­ton­rei­he auch „Na­tur­ton­rei­he“ und es gibt eine lan­ge His­to­rie, die In­ter­val­le und die Dur-Moll To­na­li­tät auf Na­tur be­zieht. Nicht zu­letzt schreibt bei­spiels­wei­se Helm­holtz in der Ein­lei­tung sei­ner be­rühm­ten Ab­hand­lung „Die Leh­re von den Ton­emp­fin­dun­gen“: „Für die Er­bau­ung des Har­mo­ni­um na­tür­li­cher rei­ner Stim­mung, wel­ches S. 512 be­schrie­ben ist, dien­te mir der So­em­me­rin­g'­sche Preis, den mir die Sencken­ber­gi­sche na­tur­for­schen­de Ge­sell­schaft zu Frank­furt a. M. be­wil­lig­te.“

Im Cem­ba­lo-Vor­spiel vom "Traum der elek­tri­schen Scha­fe" wird die "Na­tür­lich­keit" der mit­tel­tö­ni­gen Stim­mung be­fragt, wenn eine kur­ze Se­quenz ei­nes Ma­dri­gals von Josquin Des­p­rez durch alle chro­ma­ti­schen Ton­stu­fen ge­führt wird. In der Fort­füh­rung der Kom­po­si­ti­on für 6 Stim­men, 4 Streich­in­stru­men­te und 1 Syn­the­si­zer schließ­lich wer­den un­ter­schied­lich ge­spreiz­te oder ge­stauch­te Spek­tralak­kor­de ein­ge­setzt, die merk­wür­dig „ver­beul­te“ Na­tur­ton­rei­hen er­zeu­gen und im Zu­sam­men­hang mit Über­le­gun­gen zu künst­li­cher In­tel­li­genz eine ima­gi­nier­te, frem­de, aber zu­gleich er­kenn­bar stim­mi­ge Mu­sik die­ser „an­de­ren“ Le­bens­form (und da­mit auch ei­ner an­de­ren mög­li­chen „Na­tur“) dar­stel­len.

Kom­men­ta­re zu „Or­dona­re­quin“/„Traum der elek­tri­schen Scha­fe“

Or­dona­re­quin be­zieht sich auf den Chan­son „Une mus­que de Bis­ca­ye“ von Josquin Des­p­rez. Ein kur­zer Aus­schnitt aus der Kom­po­si­ti­on wird in im­mer wie­der neu­en Kon­stel­la­tio­nen auf die ver­schie­dens­ten Ton­stu­fen trans­po­niert. Auf­grund der spe­zi­el­len Stim­mung des Cem­ba­los und viel­fäl­ti­ger Di­mi­nu­tio­nen klin­gen die­se Ton­kon­stel­la­tio­nen trotz ih­rer Ähn­lich­keit im­mer wie­der an­ders, da die In­ter­vall­ver­hält­nis­se in ver­schie­de­nen Ton­ar­ten je­weils nä­her oder wei­ter ent­fernt von ei­ner rei­nen Stim­mung sind und er­zeu­gen so beim Zu­hö­ren ei­nen ganz ei­ge­nen Reiz ei­ner merk­wür­dig "ver­beul­ten" Har­mo­nik.

Die Kom­po­si­ti­on "Traum der elek­tri­schen Scha­fe" nimmt ih­ren Aus­gang vom Be­ginn des Cem­ba­lo­stücks, des­sen Har­mo­nik durch vie­le Zerr­spie­gel spek­tral de­for­miert in eine fik­ti­ve, spe­ku­la­ti­ve Traum­welt als Al­le­go­rie ei­ner un­be­kann­ten, von Tech­no­lo­gie ge­präg­ten Zu­kunft mün­det. Der Text wur­de da­bei aus dem fol­gen­den Aus­schnitt des be­deu­ten­den und zu­kunfts­wei­sen­den Tex­tes "Über die Wür­de des Men­schen" von Gio­van­ni Pico del­la Mi­ran­do­la, ei­nem Zeit­ge­nos­sen von Josquin Des­p­rez, ge­ne­riert:

"Denigne­mur ter­restria cae­les­tia con­tem­na­mus et quic­quid mun­di est deni­que post­ha­ben­tes ul­tra­munda­nam cu­ri­am emi­nen­tis­si­mae di­vi­ni­ta­ti pro­xi­mam ad­volve­mus."

In der deut­schen Über­set­zung (Her­bert W. Rüs­sel):

"Nach­dem wir al­les, was noch von die­ser Welt ist, hin­ter uns ge­las­sen ha­ben, wol­len wir je­nem au­ßer­welt­li­chen Pa­las­te zu­ei­len, wel­cher der er­ha­be­nen Gott­heit am nächs­ten ist."

Die Er­zeu­gung des Tex­tes und der spe­zi­el­len mi­kro­to­na­len Har­mo­nik für die Kom­po­si­ti­on fand da­bei un­ter Zu­hil­fe­na­me al­go­rith­mi­scher, (de)kon­struk­ti­vis­ti­scher Ver­fah­ren aus der Künst­li­chen In­tel­li­genz statt.

Die Aus­füh­rung ei­ner solch aben­teu­er­li­chen Mu­sik durch mensch­li­che Stim­men ist an­ge­sichts der mi­kro­to­na­len spek­tra­len Dif­fe­ren­zie­rung auf elek­tro­ni­sche Un­ter­stüt­zung in Form des Syn­the­si­zers und spe­zi­el­ler elek­tro­ni­scher Stimm­ga­beln an­ge­wie­sen, die ich als Sinn­bild für die Am­bi­va­lenz des Ver­hält­nis­ses von Mensch und Tech­no­lo­gie zwi­schen Glücks­ver­spre­chen und Ab­hän­gig­keit ver­ste­he.

TEXT: ORM FIN­NEN­DAHL

 

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