Über die Gefahren des Übens

Illustration einer Person, die Geige übt und dabei vor Anstrengung schwitzt
(Foto: Jan Buchczik (Illustration))
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Tim Vog­ler un­ter­schei­det sinn­lo­ses von sinn­vol­lem Üben und denkt über ein neu­es Sym­po­si­um­s­the­ma nach.

Grund­sätz­lich gilt: Üben ist eine hoch­gra­dig in­di­vi­du­el­le Tä­tig­keit. Wer ver­schie­de­nen Per­so­nen beim Üben zu­hört, wird fest­stel­len, dass es sich sehr ver­schie­den an­hö­ren kann. Al­ler­dings kann man vom blo­ßen An­de­ren-beim-Üben-Zu­hö­ren nicht die Pro­zes­se er­ken­nen, die in der ü­ben­den Per­son zeit­gleich ab­lau­fen, geis­ti­ge Dis­po­si­tio­nen, kör­per­li­che As­pek­te, die Art und Wei­se des Sich-selbst-Zu­hö­rens.

Ich er­in­ne­re mich zu­rück an mei­ne Ju­gend.

Mei­ne El­tern sag­ten da­mals von Zeit zu Zeit ger­ne, die­ser oder je­ner übt schon zwei oder gar drei Stun­den am Tag. Die­se Vor­hal­tung emp­fand ich, selbst viel­leicht erst 20 Mi­nu­ten ü­bend, als de­mü­ti­gend, weil ich über­haupt nicht ge­wusst hät­te, was ich so lan­ge hät­te ü­ben sol­len und war­um.

Heu­te wür­de ich un­ter sinn­vol­lem und sinn­lo­sem Üben un­ter­schei­den. Zum sinn­vol­len Üben, wel­ches man selbst­re­dend für vie­le Stun­den am Tag ma­chen kann (es gibt kein Li­mit nach oben), ge­hört na­tür­lich nicht nur das land­läu­fi­ge Wie­der­ho­len von Stel­len. Es ge­hört auch die gan­ze und kom­ple­xe Er­kun­dung des mu­si­ka­li­schen Tex­tes dazu, die Iden­ti­fi­zie­rung von tech­ni­schen Schwie­rig­kei­ten und ih­rer Ana­ly­se, der sinn­vol­le Ein­satz von Be­we­gungs­ko­or­di­na­ti­on un­ter wis­sen­der oder ent­de­cken­der Um­sicht im Um­gang mit dem ei­ge­nen Kör­per. Ein gu­tes Prin­zip beim sinn­vol­len Üben ist das Prin­zip der wan­dern­den Auf­merk­sam­keit. Sich auf­merk­sam wech­seln­den The­men­be­rei­chen zu­zu­wen­den, Hal­tung, rech­te Hand, lin­ke Hand, Ton­ge­bung, In­to­na­ti­on, Rhyth­mus und Tem­po, Aus­druck, Dy­na­mik, sich ein­zel­nen As­pek­ten voll zu wid­men oder al­les gleich­zei­tig als eine Ein­heit zu ver­fol­gen, das hält frisch und schafft ein gu­tes Fun­da­ment für in­ter­pre­ta­to­ri­sche Si­cher­heit.

In den Kom­plex des sinn­lo­sen oder gar ge­fähr­li­chen Übens passt me­cha­ni­sches Durch­spie­len, stump­fes Wie­der­ho­len von Stel­len, da­bei auch Feh­ler im­mer mit wie­der­ho­lend. Feh­ler stän­dig zu wie­der­ho­len, trai­niert eben die­se und es wird schwe­rer, sie spä­ter wie­der los­zu­wer­den. Man ge­wöhnt sich an sie. Die­ses be­trifft un­ter Um­stän­den In­to­na­ti­ons­un­rein­hei­ten, an die man sich schnell ge­wöh­nen kann, oder auch Fehl­dis­po­si­tio­nen im Um­gang mit dem ei­ge­nen Kör­per. Wer dau­er­haft fest ist, wird nach ei­ner Wei­le – das kön­nen auch Jah­re spä­ter sein – un­ter Um­stän­den ernst­haf­te Be­schwer­den be­kom­men: so­ge­nann­te Mu­si­ker­krank­hei­ten. Die­se sind oft psy­cho­so­ma­ti­scher Na­tur, aber es kön­nen auch kon­kre­te Sym­pto­me aus­ge­löst wer­den wie Rü­cken-, Na­cken-, Hand­schmer­zen oder Seh­nen­schei­den­ent­zu­̈n­dun­gen, um nur ei­ni­ge zu nen­nen.

Ein wei­ser Satz mei­ner frühe­ren Men­to­rin Hedi Gig­ler: „Wer nicht übt, kann auch nichts falsch ma­chen.“

Ich möch­te ein Plä­doy­er für sorg­fäl­ti­ges und lang­sa­mes Üben aus­spre­chen, da­mit Feh­ler gleich von An­fang an nicht pas­sie­ren. Sind die Be­we­gungs- und Hör­ab­läu­fe in der Vor­stel­lung erst ein­mal ge­klärt, muss na­tür­lich auch sinn­stif­tend wie­der­holt und so­gar trai­niert wer­den. Das ist dann ein Stück weit wie beim Sport. Geht man in die Be­las­tung durch vol­les Tem­po und vol­len Aus­druck, wird es manch­mal auch Miss­emp­fin­dun­gen ge­ben, durch die man so­zu­sa­gen durch­tau­chen muss. Das weiß je­der Lang­stre­cken­läu­fer. Wir brau­chen eine gute Ba­lan­ce von Ein­fühl­sam­keit und Vi­ta­li­tät zum Üben.

Wäre es nicht ein­mal in­ter­es­sant, eine Art Sym­po­si­um zum The­ma „Üben“ in der Hoch­schu­le ab­zu­hal­ten? Wie ü­ben wir er­fah­re­nen Lehr­kräf­te ei­gent­lich selbst? Fragt sich Tim Vog­ler.

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