Über die Gefahren des Übens
Tim Vogler unterscheidet sinnloses von sinnvollem Üben und denkt über ein neues Symposiumsthema nach.
Grundsätzlich gilt: Üben ist eine hochgradig individuelle Tätigkeit. Wer verschiedenen Personen beim Üben zuhört, wird feststellen, dass es sich sehr verschieden anhören kann. Allerdings kann man vom bloßen Anderen-beim-Üben-Zuhören nicht die Prozesse erkennen, die in der übenden Person zeitgleich ablaufen, geistige Dispositionen, körperliche Aspekte, die Art und Weise des Sich-selbst-Zuhörens.
Ich erinnere mich zurück an meine Jugend.
Meine Eltern sagten damals von Zeit zu Zeit gerne, dieser oder jener übt schon zwei oder gar drei Stunden am Tag. Diese Vorhaltung empfand ich, selbst vielleicht erst 20 Minuten übend, als demütigend, weil ich überhaupt nicht gewusst hätte, was ich so lange hätte üben sollen und warum.
Heute würde ich unter sinnvollem und sinnlosem Üben unterscheiden. Zum sinnvollen Üben, welches man selbstredend für viele Stunden am Tag machen kann (es gibt kein Limit nach oben), gehört natürlich nicht nur das landläufige Wiederholen von Stellen. Es gehört auch die ganze und komplexe Erkundung des musikalischen Textes dazu, die Identifizierung von technischen Schwierigkeiten und ihrer Analyse, der sinnvolle Einsatz von Bewegungskoordination unter wissender oder entdeckender Umsicht im Umgang mit dem eigenen Körper. Ein gutes Prinzip beim sinnvollen Üben ist das Prinzip der wandernden Aufmerksamkeit. Sich aufmerksam wechselnden Themenbereichen zuzuwenden, Haltung, rechte Hand, linke Hand, Tongebung, Intonation, Rhythmus und Tempo, Ausdruck, Dynamik, sich einzelnen Aspekten voll zu widmen oder alles gleichzeitig als eine Einheit zu verfolgen, das hält frisch und schafft ein gutes Fundament für interpretatorische Sicherheit.
In den Komplex des sinnlosen oder gar gefährlichen Übens passt mechanisches Durchspielen, stumpfes Wiederholen von Stellen, dabei auch Fehler immer mit wiederholend. Fehler ständig zu wiederholen, trainiert eben diese und es wird schwerer, sie später wieder loszuwerden. Man gewöhnt sich an sie. Dieses betrifft unter Umständen Intonationsunreinheiten, an die man sich schnell gewöhnen kann, oder auch Fehldispositionen im Umgang mit dem eigenen Körper. Wer dauerhaft fest ist, wird nach einer Weile – das können auch Jahre später sein – unter Umständen ernsthafte Beschwerden bekommen: sogenannte Musikerkrankheiten. Diese sind oft psychosomatischer Natur, aber es können auch konkrete Symptome ausgelöst werden wie Rücken-, Nacken-, Handschmerzen oder Sehnenscheidenentzündungen, um nur einige zu nennen.
Ein weiser Satz meiner früheren Mentorin Hedi Gigler: „Wer nicht übt, kann auch nichts falsch machen.“
Ich möchte ein Plädoyer für sorgfältiges und langsames Üben aussprechen, damit Fehler gleich von Anfang an nicht passieren. Sind die Bewegungs- und Hörabläufe in der Vorstellung erst einmal geklärt, muss natürlich auch sinnstiftend wiederholt und sogar trainiert werden. Das ist dann ein Stück weit wie beim Sport. Geht man in die Belastung durch volles Tempo und vollen Ausdruck, wird es manchmal auch Missempfindungen geben, durch die man sozusagen durchtauchen muss. Das weiß jeder Langstreckenläufer. Wir brauchen eine gute Balance von Einfühlsamkeit und Vitalität zum Üben.
Wäre es nicht einmal interessant, eine Art Symposium zum Thema „Üben“ in der Hochschule abzuhalten? Wie üben wir erfahrenen Lehrkräfte eigentlich selbst? Fragt sich Tim Vogler.
